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Vorsprung durch Varietät


Auszug aus

Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft, 2024, eBook (Amazon Kindle) https://www.amazon.de/Die-Purpose-Wirtschaft-Management-Gemeinwohl-ebook/dp/B0CY1VWB6S




 

"I never predict. I just look out the window and see what's visible—but not yet seen."

Peter Drucker, 1997

 

Wer heute Organisationen führt oder Entscheidungen trifft, hat es mit einer unbekannten Zukunft zu tun. Zukunftsfähigkeit entsteht in einer Purpose-Wirtschaft durch Offenheit. Ein zentraler Schlüssel sind Managementinnovationen, also den Prozess des Organisierens immer wieder neu zu denken und sich auf ein Terrain zu begeben, in dem man nicht mehr den gewohnten Überblick hat. Wer sich darauf einlässt, über-nimmt Verantwortung, definiert die eigene Führungsrolle neu, priorisiert in einer Purpose-Wirtschaft die eigenen Aufgaben neu und öffnet sich für das Spannungsfeld von Gewinnorientierung als Kosten des Überlebens und Gemeinwohlorientierung mit Fragen der gesellschaftlichen Legitimität. Die Widersprüche zwischen dem zielbasierten Geschäftsmodell und der gesellschaftlichen Aufgabe, die für die Organisation aus nachhaltigen, sozialen oder demokratiefördernden Gründen erwachsen und deren Erfüllung sie sich immer seltener entziehen kann, lassen sich in der nächsten Gesellschaft nicht auflösen.

In der Purpose-Wirtschaft benötigt die Führungskraft ein höheres Maß an Urteilsvermögen, um mit dem Unerwarteten in der nächsten Gesellschaft umgehen zu können. Bisherige wirtschaftliche Erfolge sind kein Garant mehr für die nächsten Erfolge. Im Komplexitätszeitalter ist Selbstgefälligkeit gefährlich. Wenn Führungskräfte aber offene Debatten und Vernetzungen auch mit kritischen Stimmen stärken, nach innen und nach außen, tragen sie dazu bei, die Vielfalt in der Organisation bei Beobachtung, Wahrnehmung, Mustererkennung und beim Verständnis des gesellschaftlichen Wandels auszubauen. Es entsteht Diskursfähigkeit, aus Kommunikation folgt Anschluss-kommunikation. Die Purpose-Debatte ist keine Modeerscheinung, sie ist kein kurzfristiges Phänomen des Zeitgeists. Gewinn und gesellschaftliche Legitimität sind im Wirtschaftssystem zu den beiden Seiten einer Medaille geworden.

Moderne Führung ist gut beraten, nicht mehr auf „power over“, sondern auf „power with“ zu setzen, wie wir bei Mary Parker Follett gesehen haben. „Power with“ heißt, potentielle Konflikte mit allen Anspruchsgruppen und der Zivilgesellschaft früh zu er-kennen und sich auf Interdependenzen einzulassen. Das eigene, bewährte und ge-winnmaximierende Geschäftsmodell mit Macht durchzusetzen, ist riskanter geworden.

Als Leitsatz kann das Ashbysche Gesetz des Mathematikers und Kybernetikers Ross W. Ashby dienen, „only variety can destroy variety“ (Ashby 1956). Die Vielfalt in Ma-nagementdebatten sollte mindestens ebenso groß sein wie die Varietät der auftreten-den Störungen in Markt und Gesellschaft, denn nur dann lässt sich der Prozess des Organisierens mit angemessener Varietät ausführen.

Als zweite Leitfigur kann Niklas Luhmann gelten, mit dessen Postulat, sich auf Varietät einzulassen und auf einfache Komplexität bei Managementinnovationen zu setzen. „Man kann alles ändern, wenn auch nicht alles auf einmal“, so die Einleitung im Text „Soziologische Aufklärung“ (Luhmann 1970). Der soziologische Welterklärer verwendet durchgängig ein konsequentes Stilmittel, die Abstraktion. Führungskräfte verlassen sich zwar nach wie vor auf ihre Intelligenzbank, die sie in Wolken von Ereignissen konstruieren. Aber mit Chester Barnard gilt seit 1938 auch, sie öffnen sich mehr und mehr für Wolken von Abstraktionen (Barnard 1938).  Und mit beiden Perspektiven versteht man umso besser, was für die jeweilige Entscheidung, Kommunikationsgele-genheit oder Legitimität anschlussfähiger sein könnte.

Maren Lehmann fasst es 25 Jahre nach Luhmanns Tod so zusammen. „Abstraktion […] lüftet jede Enge. Was, wenn nicht das, ist zeitgemäß?“ (Lehmann 2023). Dirk Baecker setzt diesen Akzent: „Nach wie vor ist die Paradoxie der verlässlichste Leitfaden. Die Gesellschaft besteht nicht aus in sich ruhenden Elementen, seien sie Menschen, Handlungen oder Kommunikation. Sie ist unruhig, unvollständig und unzuverlässig. […] Wie dysfunktional sind ihre Funktionen, wie funktional ihre Dysfunktionen?“ (Baecker 2023). Für Rudolph Stichweh verkörpert sich Luhmanns Ansatz im Begriff der Lernfähigkeit. „Luhmann war von Lernfähigkeit zutiefst überzeugt. Sie war eine Eigenschaft des Menschen, die nicht verbessert werden konnte. Sie war eine Bedingung der Bewältigung doppelter Kontingenz. Nur sie erlaube es, die Komplexität, ‚die mit der Existenz eines freien alter ego in die Welt kommt‘ zu meistern.“ (Stichweh 2023)

Die dritte Leitfigur für Varietät ist schon in Dänemark beobachtbar, vom dortigen Bildungsministerium seit dem Jahr 2010 maßgeblich initiiert. Innovation, Wissensarbeit und Bildung sind eng verknüpft. Im Komplexitätszeitalter zählt für eine zukunftsfähige Wirtschaft vor allem Entrepreneurship und Veränderungsbereitschaft. In der nationalen Strategie Dänemarks für Bildung und Ausbildung wird Unternehmertum im Bereich des formalen als auch des nicht-formalen Lernens zum zentralen Bestandteil der Bildungs-politik und Praxis. Nicht alle Däninnen und Dänen müssen Entrepreneure werden, aber wenn es träger und selbstgefälliger werdende Gesellschaften nicht schaffen, Teile ihres Nachwuchses für unternehmerische Lebens- und Arbeitsentwürfe zu motivieren, nimmt die Zukunftsfähigkeit eines Landes ab. Dänemark hat die Kennzahl gesetzt. In der Spitzengruppe ihrer Bildungseinrichtungen werden schon über die Hälfte ihrer Lernenden mit Entrepreneurship-Inhalten ausgebildet.

“Education is to increase the innovation capacity: A change of culture in the educational system focusing more on innovation” (Danish Government 2012). Eine entrepreneurial society entsteht, in der technische, nachhaltige und soziale Probleme als unternehmerische Chancen gesehen werden. Das gebildete Individuum des 21. Jahrhunderts sieht sich selbst in der Pflicht, Wissen zur Anwendung zu bringen und wartet nicht darauf, dass man in einer Organisation ihr oder ihm die Freiheit dafür gibt. Das Individuum des 21. Jahrhunderts entwickelt eine Balance zwischen dem Sich-auf-sich-selbst-verlassen und der Notwendigkeit, Wissen mit anderen zu teilen, um es fruchtbar zu machen. Für die Organisationen des 21. Jahrhunderts heißt das, immer wieder ihre Strukturen an-zupassen, unternehmerische Freiheiten innerhalb der Organisation zuzulassen, sie in ihrem Umfeld zu fördern, mehr in Netzwerken zu agieren und auf Varietät zu setzen.

Ein zukunftsfähiges Unternehmen und zukunftsfähige Führungskräfte orientieren sich in der nächsten Gesellschaft an der Herausforderung, mit Widersprüchen umgehen zu können. Komplizierte Phänomene können viele lösen. Wer aber Lösungen für komplexe und chaotische Phänomene und Probleme sucht, arbeitet an einem „Vorsprung durch Varietät“. Ein gesundes Unternehmen braucht diesen Vorsprung.

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