Auszug aus: Winfried W. Weber
Die Purpose-Wirtschaft. Management als Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl2024. Vgl. Kapitel: Sounding Board, S. 240-242, Blogbeitrag als erweiterte Fassung
Die Industrieproduktion in Deutschland ist gegenüber 2019 um 8 Prozent gesunken (IWD 2024). Deutschlands Geschäftsmodell ist in Gefahr. Ansteigende Kosten, schleppende Transformation, drohende Handelskriege, die wichtigsten Auslandsmärkte USA und China bereiten Probleme, viele Unternehmen als IT-Nachzügler, Fachkräftemangel und uneffektive Qualifizierung, ganz zu schweigen von den Hemmnissen durch mangelhafte staatliche Infrastrukturen.
Viele Unternehmen bringen zwar gute Voraussetzungen mit, um den brutalen Strukturwandel erfolgreich bewältigen zu können, aber die Veränderungen und Innovationen kommen in etablierten Unternehmen zu langsam in Fahrt. Innovationen in kleinen Schritten helfen da nicht mehr. Das neue Gelände ist ein Dschungel, in dem man vor allem mit bahnbrechende Innovationen überleben wird. Das Nicht-Wissen in Organisationen nimmt zu. Wake-up Calls von allen Seiten werden für die Führungskraft zu einem ständigen Rauschen, aus dem sie kaum mehr eine Priorisierung herausfiltern kann. Order from noise (Heinz von Foerster) gewinnt das Management in einem zirkulären Prozess, wenn es lernt, Entscheidungen von außen mitsteuern zu lassen. Beobachter (also auch Führungskräfte) sind immer Teil der Welt (Heinz von Foerster). Sie blicken in Spiegel, die sich immer mehr verschachteln und kontingent werden. Durch Zufall entsteht eine Drift, die ins Mutige verweist und Risiken einigermaßen abschätzbar werden lässt oder eine Drift, die in eine vermeintliche Sicherheit führt und gleichwohl Chancen unwiederbringlich verstreichen lässt.
Noch leben wir in einer Gesellschaft von Organisationen. Längst ist die Organisation aber nicht mehr die überall dominante soziale Strukturform, auch schon nicht mehr in allen Teilen der Wirtschaft, und könnte vielleicht den Zenit ihrer etwa zweihundertjährigen Erfolgsgeschichte noch in den nächsten Jahrzehnten überschreiten. Inzwischen spielen Netzwerke, die viel länger existieren als Organisationen, durch ihre Offenheit und leichtere Verknüpfbarkeit wieder eine wichtigere Rolle. Die enge Kopplung, auf die in der Organisation so viel Wert gelegt wird, wird durch die lose Kopplung im Netzwerk abgelöst. Zwar sind die Netzwerkverbindungen schwächer und unverbindlicher als in der Organisation, gleichzeitig wird dieser Nachteil durch die Vielzahl von Verbindungen wieder wettgemacht. Netzwerke lassen über eine Vielzahl von Hubs, also ihren stern-förmigen Netzknoten immer größere Gebilde entstehen und können dominante Organisationen an die Peripherie drängen, um dann wiederum von anderen, neuen Knoten-punkten abgelöst zu werden. Organisationen beginnen mehr und mehr, sich in organisationsübergreifende Netzwerke einzufügen.
Paradoxerweise sind durchaus jene Unternehmen besonders erfolgreich, die bereit sind, Kontrollverluste durch Netzwerke in Kauf zu nehmen. Dies wird auch von der soziologischen Netzwerktheorie bestätigt, die aufzeigt, dass Kontrolle nicht von Akteuren ausgeht, sondern von Beziehungen, Interaktionen, Zusammenhängen und Ver-knüpfungen. Schon die Studien von Max Weber, Georg Simmel und Emile Durkheim lassen sich als Theorie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Phänomene in der Gesellschaft lesen (vgl. Weber 2005). Netzwerke sind dabei als soziale Strukturen zu verstehen, die individuelles Handeln eher einschränken, als dies in Organisationen der Fall ist. Netzwerke bestehen aus den Bindungen, die zwischen den Systemen und Knotenpunkten liegen und damit auf einer höheren Ebene, über der an ihr beteiligten Organisationen oder Individuen. Nach Harrison White (White 1992) werden Personen in Netzwerken übrigens erst dann identifizierbar, wenn sie durch Überlappungen mehrerer Netzwerke wahrgenommen werden können (vgl. Weber, 2005).
Die abstrakte Theorie von Netzwerken lässt sich an einfachen Mechanismen im Netz-werkalltag erhellen. Wie funktioniert „Vertrauen“, wie entsteht „ein guter Ruf“ und Anschlussfähigkeit in Netzwerken? Durch Altruismus! Jede Akteurin und jeder Akteur gibt bei der Gründung eines sozialen Netzwerks mehr in das Netzwerk ein, als man her-ausnimmt. Über den Ruf entscheidet keine hierarchische Instanz. Einen Vorschuss bekommt man im noch jungen Netzwerk allenfalls als schon etwas etablierte „Netzwerker“, die als Hubs oder Knotenpunkte mehr Einfluss erhalten. Nochmals, im Netzwerk entsteht Renommee, wenn jemand mehr gibt als nimmt. Und das ist der große Unter-schied zu den meisten Organisationen, in denen man dann etwas gibt, wenn man auch etwas mindestens Gleichwertiges bekommt. Netzwerke sind offener als Organisationen, die sich immer auch über Mitgliedschaft definieren. Sie ähneln Allmenden, die als Landflächen oder Wissensbanken der Allgemeinheit zur Verfügung standen und in einigen deutschen Kommunen immer noch zur Verfügung stehen. "Almeinde" und "almeine" bedeuten im Mittelalter eine Gemeindefläche, die im Besitz einer Dorfgemeinschaft war und zum Beispiel als Beweidungsfläche, Wasser- oder Holzressource allen Bewohnern zur Verfügung stand. Sie zählen in diesem Sinne auch zu den Wurzeln einer sozialen Marktwirtschaft.
Der Autor selbst war einige Jahre lang Mitglied eines CEO-Sounding-Boards beim Vorstandsvorsitzenden eines deutschen CDAX-Konzerns. Die Mitglieder eines Sounding Boards, das sich hier als heterogener Kreis aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammensetzte, gaben während eines strategischen Wandels dem CEO und der Steuerungsgruppe kontinuierlich Feedback. Es geht bei einem Sounding Board um Kontingenz, also um die Möglichkeit, dass sich für die Organisation alles auch ganz anders entwickeln könnte. Es geht um die blinden Flecke der eigenen Wahrnehmung und die Erweiterung der Beobachtungsperspektive und ungewohnte Zugänge durch den Blick von Außenstehenden, die aus völlig unterschiedlichen Bereichen kommen und sich Wandlungsprozesse und Sachverhalte ganz anders anschauen können. Entscheidend ist, dass man dabei eine gemeinsame Sprache erlernt, mit der man die unterschiedlichen Beobachtungen austauschen kann. Es geht darum, Probleme, Beobachtungsmuster, Routinen, Best Practices und Logiken zu identifizieren, sich darüber auszutauschen und für das Unternehmen fruchtbar zu machen.
Ein Sounding Board taucht in ein Phänomen ein, beschäftigt sich damit, und will her-ausfinden, was in der Welt vor sich geht. Was könnten in einem Open-Innovation-Prozess mögliche Nightmare-Wettbewerber sein, wie kann man selbst disruptiver wer-den und welche unerwarteten Player könnten in den nächsten Jahren das eigene Kerngeschäft beeinflussen oder unter Druck setzen. Leute aus unterschiedlichen Be-reichen begeben sich auf eine gemeinsame Abstraktionsebene und versuchen ein Gespür dafür zu bekommen, wie andere die Dinge sehen und versuchen zu erahnen, wie andere ihre Logiken entwickeln. Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und wie neue, gemeinsam gewonnene Fakten zu interpretieren sind. Und gleichwohl sich dabei der Gefahr bewusst zu sein, mit dem Ingenieur und Linguisten Alfred Korzybski formuliert, dass "die Karte nicht das Gebiet ist - the map is not the territory" (Korzybski 1933). Abstraktionen können manchmal zwar die Fähigkeit ein-schränken, die volle Realität zu sehen, können uns aber trotzdem helfen, neues Gelände zu erkunden.
Karl Weick nennt diesen Prozess das Sensemaking. Organisationen erarbeiten sich ein plausibles Verständnis, also eine Karte von einer sich verändernden Welt. Dann testet man diese Karte im Prozess des Organisierens durch Datenerfassung, Aktionen und Gespräche und verfeinert die Karte, falls sie sich als glaubwürdig erweist. Weicks bekannte Anekdote dazu:
„Eine kleine Militäreinheit wurde zu einem Trainingseinsatz in die Schweizer Alpen geschickt. Sie kannten das Gelände nicht sehr gut, und plötzlich begann es zu schneien. Es schneite zwei Tage lang. Überall gab es große Verwehungen, und es war schwer, durch die Wolken und den wehen-den Schnee zu sehen. Die Männer hielten sich für verloren. Ihnen war kalt und sie hatten Hunger, und in der Einheit machte sich Panik breit, als sie darüber nachdachten, was aus ihnen werden würde. Doch dann fand einer von ihnen eine Karte in seiner Tasche. Alle drängten sich um sie herum und versuchten herauszufinden, wo sie sich befanden und wie sie hier herauskommen könnten. Sie beruhigten sich, fanden sich selbst und planten einen Weg zurück zu ihrer Basis. Sie schlugen ihr Lager auf, hielten den Schneesturm aus und begannen mit der Arbeit. Natürlich trafen sie nicht immer die Orientierungspunkte, […] und so mussten sie sich auf dem Rückweg noch mehr Gedanken machen. Unterwegs erhielten sie Hilfe von Dorfbewohnern und änderten ihren Weg, wenn sie auf Hindernisse stießen. Und als sie schließlich zum Basislager zurückkehrten, stellten sie fest, dass die Karte, die sie benutzt hatten, eigentlich eine Karte der Pyrenäen und nicht der Alpen war.“ (Weick 1969)
Landkarten funktionieren, fast jede, sagt Weick. Zumindest wenn man vorsichtig bleibt und gelernt hat, dass Karten nicht das Gebiet sind.
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