„Wo befindet sich die Intelligenzbank von Führungskräften“, war zu Beginn eines empirischen Forschungsprojekts eine der Fragen, die sich der Autor stellte (Weber 2005). Niemand dachte damals an Künstliche Intelligenz. Kürzlich versuchte der Autor einen Roundtable mit Führungskräften aus der Industrie und einem Soziologen zu dessen Begriff und Essay "Produktkalkül" auszuloten und hatte die Praktiker vorab gebeten, ob in ihrem Kreis eine Diskussion darüber anschlussfähig wäre. Ein Kollege illustrierte seine kurze Recherche, er habe es auch mit ChatGPT versucht, „ich bin aber bei einer software-lastigen Betrachtung von Systemen gelandet." Schon ahnen wir, was passieren könnte, wenn Führungskräfte bei kniffeligen Themen vorschnell OpenAI heranziehen.
Bei dieser Studie zur Intelligenzbank zeigte sich, dass sich Führungskräfte bei komplizierten Fragen damals insbesondere Rat bei anderen Führungskräften holten. Das Management bleibt nach wie vor ein selbstreferentielles Milieu. Jede und jeder schaut meist zunächst, was die anderen machen. Auch wichtig, aber weniger wichtig, war bei den Studienergebnissen der Rat aus Beratung, Managementphilosophie oder Wissenschaft (ebd. S. 20 und S. 182). Für reflektierte Führungskräfte bestand die Kunst darin, aus möglichst vielen Stimmen ein Urteilsvermögen zu generieren.
Führungskräfte sind heute gut beraten, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass künstliche Intelligenz irgendwann zur maßgeblichen Intelligenzbank des Managements wird und der menschlichen Intelligenz entsprechen könnte. Einschlägige Forschende haben schon lange herausgearbeitet, dass KI nur im Wechselspiel mit menschlicher Intelligenz und mit Inter- und Multidisziplinarität möglich und sinnvoll ist.
Maschinen lernen, wenn sie mit Algorithmen so programmiert werden, dass sie aus einer möglichst großen Datenmenge Aufgaben so abgleichen, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ihr Urteil sich den Lösungen annähert, die schon existieren (Domingos 2015). Ein Algorithmus ist letztlich wie eine Produktionsanlage, in die man etwas eingibt, die dann nach vorbestimmten Regeln etwas erzeugt und ein Ergebnis vorweisen kann.
Wenn sich Führungskräfte bei den Vorbereitungen für ihre Entscheidungen KI-Intelligenzbanken bedienen, die durch Webcrawler und ohne Interaktion mit menschlichen Benutzern das Internet durchforsten, handeln sie sich im Komplexitätszeitalter ein ähnliches Problem ein, wie diejenigen, die damals vor allem auf die Managementkolleginnen und -kollegen hörten. Die Aufgaben, das Umfeld zu verstehen, für Ziele zu sorgen, Entscheidungen zu treffen, die Organisation zu entwickeln, ihre Strukturen zu ändern usw. verlangt Eigensinn und Unberechenbarkeit, kurz menschliche, soziale und gesellschaftliche Intelligenz.
Was soll man von Bots (englisch als Abkürzung von robot - Roboter) lernen, die selbsttätig Webseiten besuchen, wobei sie vorhandenen und stark besuchten Links folgen und dabei den Inhalt der Seiten auswerten? Um welche Intelligenz handelt es sich hier?
Dirk Baecker unterscheidet zwischen unterschiedlichen Ebenen. Jeder Wissensbereich menschlichen Verhaltens, Handelns und Erlebens, hier intelligenten Führens und Entscheidens wird durch die Ausklammerung alternativer Modelle vertieft. „Für die Biologie zählen nur Organismen, für die Neurowissenschaften nur das Gehirn, für die Psychologie nur das Bewusstsein, für die Soziologie nur die Gesellschaft und für die Informatik nur die Maschine. Die interessantesten Theoreme entwickeln diese Wissenschaften zwar immer dann, wenn sie an den Grenzen ihrer Phänomene und Problemstellungen liegen, doch führt dies allenfalls dazu, die Problemstellung der Ausdifferenzierung und Reproduktion der Phänomene zu schärfen, jedoch nicht dazu, die Phänomene und Problemstellungen aufeinander zu beziehen“ (Baecker 2019), und weiter „Organismen operieren im Medium der Irritabilität, Gehirne im Medium der Prädiktion, das Bewusstsein im Medium der Imagination, die Gesellschaft im Medium der doppelten Intelligenz und Technologien im Medium eines zunehmenden Abstands von berechenbarer Kausalität.“ (ebd.)
Man kann sich bei den Verfahren des Maschinenlernens an die Gesetze der Statistik halten. „Jedes einzelne Ereignis ist unvorhersehbarer als die Menge vieler Ereignisse, die einer bestimmten Wahrscheinlichkeit folgen“ (ebd., S. 16). Mit Warren Weaver kann man hier von einer organisierten Komplexität sprechen (Weaver 1948).
Von der Vorstellung, dass künstliche Intelligenz beim Organisieren irgendwann der menschlichen Intelligenz entsprechen könnte, hat man sich schon lange verabschiedet, so Dirk Baecker (2019). Der Prozess des Organisierens ist ein Zusammenspiel von Phänomenen, die jeweils für sich eine besondere Form von Intelligenz sind. Bei Baecker sind das der Organismus, das Gehirn, das Bewusstsein, die Gesellschaft und die Maschine. Als Führungskraft kann ein Zusammenspiel aus Bewusstsein, das ohne Gehirn und Organismus nicht funktionieren könnte, und ohne Gesellschaft, zu der sie spricht, und ohne eine Maschine, die zum Beispiel die Kommunikation ermöglicht, auf keine Resonanz stoßen. Diese Instanzen sind aufeinander angewiesen.
Versuchen wir an dieser Stelle mit ChatGPT den Purpose eines Unternehmens beschreiben zu lassen, zunächst auf der Grundlage der soziologischen Systemtheorie und dann mit der Eingabe von Schlagworten. Nehmen wir als Beispielversuch ein Unternehmen, das kurz vor den Tagen der Erstellung dieses Textes in die Insolvenz gegangen ist. Auf drei Fragen sind diese Vorschläge zum Beispiel zu „Siemens Energy“ am 15.11.2023 herausgekommen (https://chatopenai.de/):
„Beschreibe den Purpose des Unternehmens Siemens Energy auf der Grundlage der soziologischen Systemtheorie“
„Gemäß der soziologischen Systemtheorie, insbesondere im Sinne von Dirk Baecker, kann der Purpose des Unternehmens Siemens Energy als Beitrag zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des sozialen Systems der Energieversorgung verstanden werden. Siemens Energy agiert als Teil dieses Systems und strebt danach, die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Energiesystems zu gewährleisten.
Der Purpose von Siemens Energy besteht darin, die Energieversorgung auf nachhaltige Weise zu sichern und den Anforderungen einer sich wandelnden Umwelt gerecht zu werden. Das Unternehmen entwickelt und implementiert innovative Technologien, um die Effizienz und Zuverlässigkeit der Energieerzeugung und -verteilung zu verbessern. Dabei berücksichtigt Siemens Energy auch die sozialen und ökonomischen Aspekte des Energiesystems, um eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.
Siemens Energy trägt dazu bei, die Interaktionen und Kommunikationen innerhalb des Energiesystems zu koordinieren und zu optimieren. Das Unternehmen arbeitet eng mit anderen Akteuren des Systems zusammen, wie beispielsweise Energieerzeugern, Netzbetreibern und Verbrauchern, um eine effektive und effiziente Energieversorgung zu gewährleisten.
Insgesamt kann der Purpose von Siemens Energy als Beitrag zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des sozialen Systems der Energieversorgung verstanden werden, indem das Unternehmen nachhaltige Lösungen entwickelt und umsetzt, um die Stabilität, Effizienz und Nachhaltigkeit des Energiesystems zu fördern.“
„Beschreibe die purpose-getriebene Strategie des Unternehmens Siemens Energy.“
„Die purpose-getriebene Strategie von Siemens Energy besteht darin, eine nachhaltige Energiezukunft zu gestalten. Das Unternehmen strebt danach, die Energiewende voranzutreiben und Lösungen für eine kohlenstoffarme und effiziente Energieerzeugung bereitzustellen. Siemens Energy setzt auf innovative Technologien und arbeitet eng mit Kunden, Partnern und Regierungen zusammen, um die Herausforderungen des Klimawandels anzugehen. Der Zweck des Unternehmens ist es, eine nachhaltige Energieversorgung für kommende Generationen zu gewährleisten.“
„Beschreibe den Purpose des Unternehmens Siemens Energy im Falle einer Insolvenz“
„Im Falle einer Insolvenz würde der Purpose des Unternehmens Siemens Energy darin bestehen, die finanziellen Verbindlichkeiten zu begleichen und die Interessen der Gläubiger zu schützen. Dies könnte durch den Verkauf von Vermögenswerten, die Umstrukturierung des Unternehmens oder andere Maßnahmen zur Schuldenreduzierung erreicht werden.
Darüber hinaus wäre es wichtig, die Auswirkungen einer Insolvenz auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu minimieren. Das Unternehmen könnte sich bemühen, alternative Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten oder Unterstützung bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen zu leisten.
Ein weiterer Aspekt des Purposes im Falle einer Insolvenz wäre es, den Geschäftsbetrieb so weit wie möglich aufrechtzuerhalten, um Kunden und Lieferanten zu bedienen. Dies könnte bedeuten, dass bestimmte Geschäftsbereiche verkauft oder eingestellt werden müssen, um die Rentabilität des Unternehmens zu verbessern.
Insgesamt würde der Purpose von Siemens Energy im Falle einer Insolvenz darin bestehen, die finanzielle Stabilität wiederherzustellen, die Interessen der Gläubiger zu schützen und den Geschäftsbetrieb so gut wie möglich fortzusetzen.“
Was lernen wir aus diesem Experiment? Kann künstliche Intelligenz irgendwann zu einer maßgeblichen Intelligenzbank des Managements werden? Können sich Führungskräfte bald von der Maxime und der klassischen Devise einer Managemententwicklung verabschieden, „to be an educated person“ und auf lebenslanges Lernen verzichten? Kann unser kleines Experiment als fast gelungen gelten? Muss man nicht zugeben, dass es sich kaum von einem Paper einer passablen wirtschaftswissenschaftlichen Klausur unterscheidet? Besteht die Kunst für das Management zukünftig eher darin, aus möglichst vielen Stimmen inklusiv der KI ihr Urteilsvermögen zu generieren? Wann schlägt KI menschliche Intelligenz, professionelles Managementwissen und Urteilsvermögen?
Was lässt der Algorithmus aber aus? Welche Daten sind noch nicht vorhanden? Wo bahnt sich unartikuliert eine Änderung von Kundenverhalten, Bürgerstimmung oder eine globale Krise an, die nur von gut vernetzten Führungskräften mit ihrem menschlichen Urteilsvermögen erkennbar wird?
Wenn wir das Gedankenspiel weiterführen und uns eine KI vorstellen, in der KI-Avatare vor Menschen erscheinen und Entscheidungen verkünden, für Ziele sorgen, Menschen fördern oder ihre Leistungen bewerten - wie könnte der entscheidende Vorteil einer Führungskraft beim Prozess des Organisierens in Unternehmen (als sozialen Systemen) je durch KI erreicht werden? Der Vorteil der menschlichen Führungskraft bei der Kommunikation unter Anwesenden ist, beeinflussen zu können, wie sie beobachtet wird.
Bei wichtigen Managemententscheidungen können Probleme nie eindeutig bestimmt und Strategien nur vorläufig entwickelt werden. Es geht beim klugen Entscheiden darum, die vermutete Wirklichkeit hinter den relevanten Variablen, Meinungen, Symptomen und Trends herauszuarbeiten. Wird das Problem falsch definiert, rennt man mit großen Anstrengungen in eine Richtung, die sich später als falsch erweist. Wer heute Wissensorganisationen neu konfiguriert, lässt zu, zumindest teilweise, dass sich das soziale System Organisation ohne zentrale Steuerung selbst organisieren kann. Führung heißt dann, emergente Systeme zu beobachten und zu beschreiben und das komplexe Zusammenspiel vieler Variablen besser zu begreifen und mitzugestalten.
Menschliche Intelligenz kann besser mit doppelter Kontingenz umgehen, der Begegnung zweier oder mehrerer sozialer Systeme, deren innerer Aufbau und innere Funktionsweise untereinander unbekannt sind, aber voneinander abhängig sind und sich gegenseitig beeinflussen. Schön zusammengefasst hat das Dirk Baecker: „Die ‚digitale Gesellschaft‘ war eine optische Täuschung, die uns glauben machte, menschliche und soziale Leistungen könnten zunehmend und tendenziell restlos durch den Computer automatisiert und ersetzt werden. Die postdigitale Gesellschaft ‚entdeckt‘, dass jeder Computer, dass jeder Algorithmus, jede Künstliche Intelligenz, soweit sie (noch) nicht mit sich selbst kommunizieren, Schnittstellen zum Organismus, zum Gehirn, zum Bewusstsein, zur Gesellschaft aufweisen müssen, die ihrerseits nicht digital, sondern analog, im Medium der Verschaltung von Widersprüchlichkeit, funktionieren.“ (Baecker 2019)
Gleichwohl müssen künstliche und managerielle Intelligenz nicht als sich gegenseitig ausschließende Konzepte begriffen werden. Als inspirierender Sparringspartner wird KI sicher von vielen Führungskräften eingesetzt werden. (vgl. Blesch 2024)
Für die Managementausbildung und Managemententwicklung hat das zur Konsequenz, dass mündliche Kommunikation, die Vertiefung der Liberal Arts oder Geisteswissenschaft, Urteilsfähigkeit und eine Moral Science wieder mehr an Bedeutung gewinnt, ganz so wie zu den Anfängen der ersten Business Schools (zum Beispiel umfassten die Liberal Arts im Curriculum der Harvard Business School zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen mehr als zehnfachen Anteil im Vergleich zu heute (vgl. Khurana 2007). Auch in der akademischen Ausbildung wird man möglicherweise wieder an die Tradition der spätmittelalterlichen Universitäten anknüpfen, bei der Studierende sich bis zu einem Drittel ihrer Studienzeit im studium generale an der universitas (der Gemeinschaft aus Studierenden und Lehrenden) mit Musiktheorie, Grammatik, Logik und Rhetorik auseinandersetzten. Management ist Kunst, ist Können, eine Profession, die praktisches Wissen und Anwendung verlangt. Weil „management is about human beings" (Peter Drucker), hat das Management die Aufgabe, auf gesellschaftliche Akzeptanz und auf Glaubwürdigkeit zu achten und die Herausforderung gesellschaftlicher Legitimität anzunehmen.
Aus: Winfried W. Weber
Die Purpose-Wirtschaft. Management als Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl2024. Kapitel: Intelligenz, Mensch, Maschine, S. 125-129
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