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Wie managt man das Neue?

Auszug aus: Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft, 2024, eBook (Amazon Kindle, http://tiny.cc/9eznzz )


Peter Drucker schrieb 2002 im Harvard Business Review, “innovation is real work, and it can and should be managed like any other corporate function.” Gut zwanzig Jahre später ist professionelles Innovationsmanagement gerade in der Industrie zur wichtigsten Führungsaufgabe geworden: Jobs designen, für Purpose zu sorgen, Prozesse weiterzuentwickeln und wettbewerbsfähig zu bleiben. Für die nächsten Jahre besteht die Herausforderung darin, nochmal mit Drucker, „changing a manager’s perception of a glass from half full to half empty“. Und diese Wahrnehmung öffne den Blick für ein riesiges Potential von Innovationsgelegenheiten.


Niemand weiß genau, wie das Neue in der Wirtschaftswelt und in Märkten entsteht. Häufig durch Entrepreneure, die neu auf das Spielfeld kommen. Durch Entrepreneure, die begeistert, begeisternd, ausdauernd und leidenschaftlich an Probleme herangehen und andersartige Lösungen suchen. Durch Entrepreneure, die sich risikobereit dem Wettbewerb stellen und die technischen, sozialen, gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen annehmen und Probleme als Chancen sehen. Durch Entrepreneure, die etablierte Organisationen und ihre routinierten Lösungen stören und die spezifischen Märkte irritieren. Manchmal auch durch Intrapreneure mit Einfluss und Weitsicht, die die Routinen ihrer Organisationen in Frage stellen. Und selten durch Intrapreneure, wenn sich – oft in Krisenzeiten – das Geschäftsmodell einer Organisation erneuern oder radikal ändern muss.


Das Neue entsteht aber nicht nur durch Menschen, sondern – soziologisch gesprochen – dadurch, dass sich ein Start-up oder eine schon bestehende Organisation von Beginn ihres Entstehens an durch Unterscheidungen und daran anschließende Unterscheidungen konstituiert. Sobald eine Organisation aber keine neuen Unterscheidungen und Entscheidungen mehr trifft, sobald sie versucht, den Status Quo und Routinen auch in Krisenzeiten beizubehalten und zu konservieren, pflanzt sie sich den Keim ihres Verfalls ein. “Draw a distinction“, ermutigt der Mathematiker und Logiker George Spencer-Brown in Form einer Aufforderung, einer Injunktion (Spencer-Brown 1969).  „Wenn Du nicht bereit bist zu unterscheiden, passiert eben gar nichts“, kann man frei nach Niklas Luhmann folgern.  Treffe eine Unterscheidung, sonst geht gar nichts. Ohne Anschlüsse und neue Unterscheidungen überlebt keine Organisation.


Das Neue entsteht dabei im Wesentlichen an zwei Grenzen. An der Grenze zur Umwelt des Unternehmens (das heißt zum Beispiel zwischen Lieferanten und Kunden) und indem innovative Entrepreneure nach Gelegenheiten für neue Produkte suchen, Phantasien entwickeln und die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung sehen, wo andere nur Barrieren sehen. Und das Neue entsteht an der Grenze zwischen den bewährten Routinen und den von den Intrapreneuren bewusst angelegten Routinestörungen innerhalb der Organisation, an denen sie sich verändern kann.

Die andere Seite der Innovation könnten wir als Normierung bezeichnen. Führungskräfte stehen immer wieder vor der Entscheidung, sollen sie Abweichungen verstärken, soll man also innovieren oder soll man Abweichungen korrigieren, also normieren. An die Stelle von Innovationen rücken dann Besitzstandswahrung und werden Wagenburgen errichtet.  Wenn das Neue entsteht, entsteht es vorwiegend in Krisenzeiten und unter Existenzdruck. Die Innovationsforschung hat gezeigt, dass das Neue im Wirtschaftssystem offensichtlich nicht aus der Konversion der Altstrukturen, sondern aus dem Wildwuchs am Rande und dem Mut und der Risikobereitschaft von Entrepreneuren entsteht. (Weber 2005)


Zum unüberschaubaren Thema technische und serviceorientierte Innovationen gibt es inzwischen eine unübersehbare Literatur und Netzwerke von Entrepreneuren. Dazu nur dieser Hinweis: Ray Kurzweil (ab 2012 „Director of Engineering“ bei Google) sagte 2013 auf der Konferenz Global Futures 2045 voraus, dass sich technische Innovationen durch KI exponentiell erhöhen werden, wie zum Beispiel in der Medizin- und Biotechnologie. „In 10 bis 20 Jahren werden sich Gesundheit und Medizin grundlegend verändern. Durch die Behandlung der Biologie als Software und die Umprogrammierung von Zellen zur Behandlung von Krankheiten und anderen Leiden hat der Mensch bereits enorme Fortschritte in der Medizin gemacht. Diese werden bis zum Ende des Jahrzehnts 1000 Mal leistungsfähiger sein. Und in 20 Jahren eine Million Mal leistungsfähiger.“ (Kurzweil 2013)

Dies ist noch nicht eingetroffen, aber schon bei der Entwicklung der Covid-Impfstoffe und neueren Erfolgen zur Krebsbehandlung kommt Kurzweils Aussage der technischen Entwicklung schon recht nahe.


Unbestreitbar wird das 21. Jahrhundert ein Zeitalter der technischen und naturwissenschaftlichen Innovationen sein, mit Berufen, die wir uns heute noch nicht vorstellen können und mit Entrepreneuren, die heute noch nicht geboren sind und später die Welt der Produkte, Prozesse und Dienstleistungen radikal verändern werden, mit KI-Lösungen, die immer mehr selbstähnliche Muster erzeugen.



Gleichwohl gehen technische Innovationen mit gesellschaftlichen und sozialen Innovationen einher. Interessant werden dabei auch einige unternehmerische Bereiche, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die soziale Entwicklung und das Gemeinwohl relevant werden und komplexer als technische oder KI-Lösungen bleiben. Denn bei technischen Informationen weiß man, dass Informationen selbst zu hochkomplizierten Problemlösungen in Sekundenbruchteilen um den Erdball transferiert werden können. Informationen zu sozialen, menschlich-kommunikativen und gesellschaftlichen Phänomenen brauchen oft Jahre, um Anschlüsse zu finden und Wirkungen zu erzielen. Schon in Paarbeziehungen zwischen Menschen, die sich gut zu kennen glauben, braucht es manchmal Jahre, wenn untereinander Informationen „gesendet“ werden, dass sie verstanden werden. Gehirne, Organisationen und Gesellschaften sind komplex. Der Prozess des Sendens und Empfangens von Informationen in der menschlichen Kommunikation, dass Aussagen und Informationen von einem Gehirn bei einem anderen Gehirn ankommen und Erkenntnis- und vielleicht Verhaltensänderungsprozesse auslösen, sind kniffelige Phänomene, die Entrepreneure herausfordern. Noch mehr gilt das für die Kommunikation in Organisationen und Gesellschaften. Der Purpose für Gründer im nicht-technischen Bereich ist, viele Fragen zuzulassen und eine offene Haltung zu pflegen, wenn soziale und gesellschaftliche Sachverhalte zu lösen sind, Lösungen zunächst als provisorisch anzusehen sind und in der Schwebe bleiben.  Anders die Routine-Organisation, die beim Beobachten und Handeln geschlossener ist und dazu neigt, an bisher bewährten Lösungen festzuhalten, auch wenn das Umfeld bereits wahrnimmt, dass diese sich in den Stolpersteinen ihrer Sinnsuche und ihrem Überlebenswillen verfangen hat.

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