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  • winfried-weber

Das Pflegedesaster - ein Kommentar

in: die Süddeutsche vom 13.​2.​2018, Seite 2


Auszüge:

Die Art und Weise, wie hierzulande die Pflege älterer Menschen organisiert wird, ist eine politische und ökonomische Fehlkonstruktion. Wenn wir nicht umdenken, wird die Qualität weiter sinken und werden die Kosten weiter steigen. Schon in den nächsten Jahren, wenn mehr und mehr Babyboomer pflegebedürftig werden, stehen wir an der Schwelle, an der das System kollabiert und kaum noch gerettet werden kann. Die zusätzlichen 8000 Pflegekräfte, die in den Koalitionsgesprächen diskutiert wurden, sind nur ein Trostpflaster, das von den Kernfragen ablenkt.

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Die Hauptleistung bei der Pflege älterer Menschen erbringen hierzulande die Familienangehörigen, die im Pflegefall über 60 Stunden wöchentlich aufwenden. Angehörige werden bei unserem Pflegesystem kaum unterstützt, ihr aufopfernder Einsatz wird von der Pflegekasse am geringsten entlohnt. Ohne die Leistungen der Familien würde in Deutschland die Pflege, für die etwa ein Prozent unserer Wirtschaftsleistung aufgebracht wird, heute schon zusammenbrechen.

Die fachlich entscheidende Leistung könnten die ambulanten Pflegeeinrichtungen erbringen. Sie wären die Schaltstelle, um die Hilfe zur Selbsthilfe zu organisieren und die Familienangehörigen und das soziale Netzwerk der Klienten so lange wie es nur geht, aufrechtzuerhalten. Aber auch für diesen wichtigsten Teil werden heute nur wenig finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt.

Am höchsten sind die Margen in der stationären Pflege, eine Dienstleistung, die sich die wenigsten Kunden wünschen und die die Kosten für die Allgemeinheit selbst bei geringen Qualitätsstandards immer weiter steigen lassen. Für die Leistungserbringer und ihren Investoren sind die Anreize heute viel höher, die normierte, standardisierte Dienstleistung weiter aufzubauen: die Pflegeheime. Und für das bürokratische Kontrollsystem ist das normierbare Heimmodell leichter zu bewerten. Nicht zuletzt legte die Entscheidung, dass Pflegebedürftige und Kranke von zwei getrennten Kassen verwaltet werden, den Grundstein für Ineffizienz und Missbrauch.

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Was wünscht sich ein Kunde an der Schwelle, an der nicht mehr alles allein bewältigt werden kann? Einen professionellen Coach, eine Krankenschwester, die sein Vertrauen gewinnt und die ihr oder ihm hilft, ein Netzwerk aufzubauen, sodass man bis zum Tod in seinem gewohnten Umfeld leben kann. Das ist die beste (und billigste) Lösung. Ein Coach, der weiß, dass auch kleinste Auslöser in die menschliche Katastrophe führen: psychische Auffälligkeiten, weil man einige Tage zu wenig getrunken hat; unerkannte Stolperstellen im Haushalt; eine Verwechslung der Pillen und anschließende Kreislaufprobleme oder die Fehleinschätzung eines medizinischen Profis zu schnell in die Klinik einzuweisen und ein Delir zu riskieren. Pflege heißt, soziale Netzwerke zu organisieren.

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Ein Ende des Business as usual ist nicht in Sicht. Was macht die Politik und wie reagiert die Gesellschaft? Schweigen und Verdrängen, bis uns die demographische Entwicklung einholt. Sollen die Noten für Pflegeeinrichtungen zwischen gut und sehr gut auch noch dann weitervergeben werden, bis man beim Minimalstandard „sauber und satt“ gelandet ist?

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Schauen wir über den Tellerrand. Hierzulande kaum bekannt ist das Pflegemodell von BUURTZORG, einem Start-up von 2007 mit heute 10000 Krankenschwestern, 960 selbstorganisierten Teams, inzwischen holländischer Marktführer und mit Pilotprojekten in 24 Ländern. Organisieren heißt bei BUURTZORG, Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich Krankenschwestern selbst organisieren und sich als präventive Gesundheitscoachs verstehen, die die vorhandenen Ressourcen bei Pflegebedürftigen und ihrem sozialen Umfeld aktivieren. Als Faustregel gilt dort, dass zwei Drittel der Zeit für direkte Hilfen und Patientenkontakt zur Verfügung stehen und man wieder wie in den Ursprüngen dieses Berufs generalistisch vorgeht. Wundversorgung und Körperpflege von einer Fachkraft durchzuführen ist zwar kurzfristig teurer, unter einem präventiven Ansatz aber langfristig kostengünstiger.

Ein effizientes Back-Office hält den Teams den Rücken frei. Die IT-Abteilung arbeitet ständig daran, es den Pflegekräften leichter zu machen, stellt laufend die Verbesserungsvorschläge der Teams über ein Intranet zur Verfügung. Buurtzorg kann als Paradebeispiel einer lernenden Organisation gelten. Mit einem einzigen Manager, Jos de Blok, dem Gründer dieser sozialen Innovation, hat BUURTZORG den Auftrag radikal verwirklicht, den jede Organisation hat: in der modernen Gesellschaft einen Nutzen zu schaffen.

Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte steht die halbe Welt vor einer kaum lösbaren Aufgabe: die Bevölkerungspyramide verformt sich und gleicht eher einem Döner. Die Lösung für die Pflege älterer Menschen kann nur darin bestehen, dass die Hilfe zur Selbsthilfe aktiviert wird. Wenn möglichst viele Ältere sich auf ihre Stärken besinnen und ihr Sozialraum intakt bleibt, kann der Pflegenotstand verhindert werden.

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