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Die Produktion erhalten

Was lernt die deutsche Industrie aus der Krise und wie wird sie zukunftsfähig?



von Winfried Weber und Hermann Doppler



Nach der „Hyperglobalisierung“ bis Ende der Nullerjahre erfolgte in den Zehnerjahren eine gewisse Neuorientierung mit einer Phase der „erschöpften Globalisierung“ (Michael Hüther), die mit ersten Ansätzen von Handelskriegen und Abschottungen einherging. Treten wir jetzt in eine Phase der Deglobalisierung ein? Und wenn ja, welche Herausforderung bedeutet dies für die Führung von Industrieunternehmen?


Deutsche Industrieunternehmen zählen zu den wettbewerbsfähigsten Organisationen einer globalisierten Welt. Ihre Exportchampions waren nicht nur neunundzwanzig Konzerne der Fortune 500-Liste, sondern insbesondere auch die gut eintausend „Hidden Champions“ sowie fünftausend weitere, meist Familienunternehmen mit einem Exportumsatz von mehr als fünfzig Millionen Euro. Auf diesem Erfolg ruhte maßgeblich die wirtschaftliche Stärke Deutschlands, das hohe Steueraufkommen und die Kreditwürdigkeit hiesiger Staatsanleihen.


Wer bei einem sich abzeichnenden neuen internationalen Wirtschaftsmodell erfolgreich sein wird, weiß derzeit niemand. Es scheint klar, dass weniger global und weniger arbeitsteilig organisiert wird und dass der schon harte Wettbewerb noch härter sein wird. Da wird es für die Politik wichtig, die Notwendigkeit angebotsorientierter Politik mit den Forderungen steigenden Vorsorge- und Pflegeaufwendungen bei hohem Schuldenstand in Einklang zu bringen.


Zunächst geht es in der weltumspannenden Schockphase jedoch ums nackte Überleben. Anti-Corona-Gesetze überschreiten bereits den Rubikon des herkömmlichen Wirtschaftssystems. Können finanzstarke Konzerne Mietzahlungen einstellen und die Änderungen im Vertragsrechts ausnutzen? Auch in einer vorübergehenden Staatswirtschaft muss der Fokus auf die Legitimität von Entscheidungen gelegt werden. Sollen mit diesen Gesetzen Zombieunternehmen gerettet werden, die schon vor der Krise nicht mehr überlebensfähig waren? Bietet das dänische Hilfspaket ein Modell, bei dem, je nach Höhe des erwarteten Umsatzausfalls, 25 bis 80 Prozent der anfallenden Fixkosten bei kleinen und mittleren Unternehmen vom Staat übernommen werden?


Exportorientierte Unternehmen stehen derzeit dem blanken Chaos gegenüber und werden für absehbare Zeit nur schwer eine Balance finden. Sie sind einem nie dagewesenen Stresstest ausgeliefert. Schon die jüngeren Belastungen durch disruptiven Wandel und Klimawandel machten nicht wenige Führungskräfte ratlos. Die hohe Kapazitätsauslastung der Unternehmen in einer auf Hochtouren laufenden Wirtschaft, verbunden mit entsprechenden Skaleneffekten hat oft den Blick mehr auf bewährte Routinen bei Produkten und Dienstleistungen als auf die Entwicklung von Innovationen oder gar Risikoszenarien durch Pandemien gelenkt.


Da ist die Frage: Wie finden Unternehmen in diesem Umfeld die neue Balance? Selbst die scheinbar einfache Frage der Organisation zukünftiger Lieferketten ist unklar? Aktuell wird deutlich, dass Unternehmen es bei der betriebswirtschaftlichen Prämisse, der Kostenminimierung von zum Beispiel medizintechnischen Produkten oder pharmazeutischen Grundstoffen übertrieben haben. Diese kommen alle „aus einem Korb“, auch wenn es manchmal nur Cent-Beträge sind, die man spart. Lager? Verschwendung! Lagerhaltung war aus der Mode gekommen.


Man erinnere sich an ein unbedeutendes Familienunternehmen, das vor 70 Jahren vor der Insolvenz stand. Eiji Toyoda stellte alles auf den Prüfstand, er holte sich Anregungen, unter anderem von Peter Drucker und William E. Deming. Ein zentraler Ansatz: Lager waren „muda“ (Verschwendung) und wurden zu Gunsten stabiler Prozesse nach und nach abgeschafft. Die gesamte Industrie war inzwischen Toyotas Ansatz des Just in Time gefolgt. Diese Lieferketten funktionierten, so werden Wirtschaftshistoriker einmal sagen, solange keine Pandemie kam.


Kollektive Orientierungen im Management bewegen sich meist wie ein Pendel. Peter Drucker und Eiji Toyoda folgerten damals richtigerweise - gegen den Trend - wer weniger verschwendet, wird wettbewerbsfähiger.


Sowohl bei Drucker als auch bei Toyota finden wir aber auch das Gegenmodell. Drucker sprach vom „systematic abandonment“. Es gilt regelmäßig darauf zu achten, sich von allem, was obsolet geworden ist und dem Gemeinwohl widerspricht, schnell zu trennen.


Eine Lehre aus der Krise wird sein, die Lieferketten viel breiter als bisher zu diversifizieren. So wird beispielsweise das kostengünstige Beschaffen aus einer Single Source mit dem Vorteil hoher Skaleneffekte wohl einem Dual oder Multiple Sourcing weichen müssen. Alle Eier aus einem Korb zu beziehen, so sehen wir es derzeit, ist sehr riskant. Eine ausgewogene Mischung von globaler und lokaler Strategie wird die Lösung sein.


Wie können Organisationen die schwachen Signale früher erkennen und richtige Entscheidungen treffen? Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität/Mehrdeutigkeit (VUCA) sind die Merkmale der Herausforderungen dieses Zeitalters. Niemand kennt die Zukunft oder hat derzeit eine eindeutige Antwort darauf, wie Unternehmen zukunftsfähig werden, wie schon Peter Drucker sagte, “Trying to predict the future is like trying to drive down a country road at night with no lights while looking out the back window.”


Acht Thesen, wie Industrieunternehmen jetzt zukunftsfähig werden


1. Besonnenheit, Selbstdisziplin und Entschlossenheit sind gefragt, auch in der Kommunikation des Managements mit Mitarbeitern und der Außenwelt. Schritt für Schritt wird die erlahmte Wirtschaft wieder in Gang kommen. Ob es eine V-Kurve, eine U-Kurve, eine W-Kurve oder eine L-Rezession werden wird - nur wenig wird wieder so sein, wie vor der Krise.


2. Starke und überlebensfähige Unternehmen sind ein Garant für eine funktionierende und für eine offene und demokratische Gesellschaft. Führungskräfte sind sich dieser Verantwortung bewusst und treffen legitime Entscheidungen wohl überlegt und mit Maß.


3. In den Unternehmen werden Sparmaßnahmen notwendig sein, um das Überleben mit bestehenden Produkten zu sichern. Die größten Potenziale liegen im Abbau der Fixkosten sowie alle Prozesse auf ihre Wertschöpfung zu überprüfen, gerade auch im administrativen und im Leitungsbereich. Leading by example bedeutet dann, dass Führungskräfte und Wissensarbeiter der Situation angemessen auf einen Teil ihres Gehalts verzichten.


4. Nur neue innovative Produkte werden es sein, die dem Wirtschaftsmotor die notwendige Schubkraft geben. Das ist in ganz besonderem Maße notwendig, als das bereits vor Beginn der Corona-Krise viele Produkte der Automobilindustrie und des Maschinenbaus aus der Disruption heraus leidend wurden. Systemrelevant werden dabei auch die Start-ups sein, die allein in Berlin 80.000 Arbeitsplätze geschaffen haben und vor der Krise 3,7 Mrd. € Wagniskapital eingesammelt hatten und von denen die Mehrzahl zur Zeit existenzgefährdet sind.


5. Es sind die Menschen, die in dieser Situation gefragt sind, sich mit all ihren Fähigkeiten und Ideen konstruktiv einzubringen. In den Unternehmen und in der Gesellschaft sind ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und die notwendige Motivation für den Aufbruch in die Zukunft zu erzeugen. Das ist nicht einfach. Gilt es doch, die Menschen aus der Schockstarre der Krise wie auch aus der durch den Wohlstand der guten Jahre gewachsenen Selbstgefälligkeit herauszuholen. In einer ausgewogenen Leadership gilt es den Menschen Orientierung und eine Perspektive zu geben, die Situation transparent und verständlich zu machen, ihn in diesen Prozess so einzubeziehen, dass über die Selbstorganisationsfähigkeit ungeahnte und notwendige Potenziale erschlossen werden. In Phasen der Kurzarbeit gilt es dabei jeden Tag, grade auch im Remote-Modus, zu nutzen, zu Lernen, die Organisation weiterzuentwickeln und zukunftsfähig zu machen.“


6. Unternehmen leben von Kunden. Der Sinn und der Zweck der Unternehmen ist es Produkte zu entwickeln, produzieren und anzubieten, die dem Kunden einen Mehrwert bieten. In einer Exportwirtschaft entwickeln Unternehmen dabei weiterhin ein Gespür für die internationalen Kunden und achten auf Verlässlichkeit und Reputation. Es gilt, die Bedürfnisse der Kunden der nächsten Jahre erkennen und die zur Befriedigung dieser Bedürfnisse richtigen Produkte zu (er-)finden, entwickeln, herzustellen und zu vermarkten. Da reichen die reine Fortschreibung der Vergangenheit und die inkrementelle Innovation nicht aus.


7. Nur in Krisenzeiten besteht eine Chance, das Lähmende radikal abzustreifen. Überbordende Bürokratisierung und Ineffizienzen in Organisationen, in der Politik und öffentlichen Verwaltung mit im OECD-Vergleich überfrachteter Regelungsdichte und ineffizienter Abläufe benötigen gerade jetzt „systematic abandonment“. Längst in der Industrie gängige Methoden wie z.B. die des leanen und agilen Managements bis hin zur Digitalisierung von Prozessen bieten sich an, in diese Bereiche übertragen zu werden.


8. Noch nie war das Handwerk des Organisierens so herausfordernd wie heute. Der Widerspruch zwischen schwindender Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Legitimität ist nicht aufzulösen. Derzeit kann innerhalb von Stunden ein über einen langen Zeitraum aufgebautes Image zerstört werden. Menschen erwarten von Profis, Organisationen so zu steuern, dass diese gleichzeitig effektiv und solidarisch sein können.



Eine Aufforderung, gerade jetzt zum Gemeinwohl beizutragen


Peter Drucker hatte die Rolle des Managements immer auch als eine gesellschaftliche Aufgabe verstanden. Nur mit starken Organisationen und gutem Management könne die moderne Gesellschaft weiterentwickelt und stabilisiert werden. 2001 schrieb er im Economist, “Managers will increasingly have to learn that in turbulent times they have to be leaders and integrators in a pluralist society. The manager in other words will have to learn to create the ‘issues’ to identify both the social concern and the solution to it.”


Angesichts der jetzigen Krise, in wahrhaft „turbulenten Zeiten“, tragen Führungskräfte maßgeblich dazu bei, dass kollektive Sinnfindung und Sinnstiftung in ihren Unternehmen und darüber hinaus in Gang kommt. Gerade jetzt beginnt im Unternehmen eine Diskursverantwortung (Karl Homann) und zwar in der informellen Kommunikation der Manager mit Kollegen, Mitarbeitern und der Außenwelt. Ein erster Schritt wäre es, Orientierung zu geben, die getragen ist von der Bereitschaft, eine Kultur des zivilisierten Umgangs mit der Corona-Krise zu fördern und konstruktiv zu gestalten. Gerade das Management hat das Potenzial, jetzt viele wichtige Weichen zu stellen und die Zivilgesellschaft zu unterstützen.


Das bedeutet zunächst und ganz konkret, als Manager Vorbild zu sein und ohne zu zögern, Ressourcen sowohl für das Überleben der eigenen Organisation als auch für das der Gesellschaft einzusetzen. Wenn die Gesellschaft vor einem Kollaps bewahrt werden soll, muss jede Führungskraft heute ihren Beitrag leisten. Abzuwarten ist tödlich. Das heißt insbesondere bei der Eindämmung von Infektionen auf die erfolgreichen Modelle in Südkorea, Hongkong und Taiwan zu schauen. Im Unternehmen heißt das zunächst, die Fürsorgepflicht sehr ernst zu nehmen. Samsung stellt allen Mitarbeitern pro Tag zwei Masken zur Verfügung. Es gilt auch in Unternehmen alles dafür zu tun, dass Infektionen von Mitarbeitern frühzeitig erkannt werden. In Ostasien tragen die Chefs und Politiker Masken, warum hier erst zehn Wochen später als dort? Die Unternehmen sollten auch digitales Tracking fördern, im Betrieb und freiwillig auch außerhalb (auch der Chef). So könnte jeder sofort erkennen, wenn man es mit Infizierten zu tun hatte und individuelle Maßnahmen ergreifen.


Organisationen als soziale Systeme sind gerade auch in Krisenzeiten in der Lage, innovative Lösungen zu entwickeln. Auch für die Bedrohung Pandemie ist die soziale Marktwirtschaft ein zukunftsfähiges Modell, wenn in starken, gemeinwohlorientierten Organisationen alle an einem Strang ziehen. Solidarische Gesellschaften kommen auf kluge Lösungen – gesellschaftlich, wirtschaftlich, finanziell und wissenschaftlich - aus der Nachbarschaft und weltumspannend, von einem effizienten Staat und der Zivilgesellschaft, von verantwortungsbewussten Mitgliedern von Organisationen. Mit Hölderlin, „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“



Prof. Dr. Winfried Weber und Hermann Doppler sind Gründer und Vorstände der Peter Drucker Society of Mannheim e.V., die u.a. den Mannheimer Purpose Summit durchführt.


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