Im klassischen Wirtschaftssystem ging es darum zu fragen, kann jemand bezahlen oder nicht bezahlen. Die Handlungen aller beteiligten Akteure orientierten sich nur daran. Finanziert und investiert wurde proportional zur Realwirtschaft. Gleichwohl gab es nach der Erfindung der Geld- und der Marktwirtschaft und auch Phasen, in denen der Code zahlen/nicht-zahlen oder die Realwirtschaft nicht mehr die Grundlage wirtschaftlichen Handelns bildete. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts brach die erste gut dokumentierte Spekulationsblase aus. Am 3. Februar 1637 in einem Gasthaus im holländischen Harlem, einige Tulpenhändler treffen sich zu einer Auktion, bleiben aber auf ihren paar Zwiebeln, deren Einstiegspreis bei 1.250 Gulden liegt, sitzen. Vor wenigen Tagen bekam man für diese edle Sorte, die rot-weiße "Semper Augustus", noch 3.000 Gulden. Die Hausse war zu Ende, die Tulpenpreise fielen um über 95 Prozent.
Die Wirtschaftsgeschichte kennt inzwischen viele Blasen. Auffallend ist nur, dass sie in immer schnellerer Abfolge auftreten, sie global immer größere Kreise ziehen und man erstaunlicherweise immer wieder mit den selben systemimmanenten Programmen reagiert, deren Instrumente immer schneller stumpf werden. Sollte man nicht an der Vernunft des Ganzen zu zweifeln beginnen? Einige sind süchtig geworden, haben alles Geld aufgebraucht und suchen nun verzweifelt nach jemanden, der wieder frisches Geld für frischen Stoff nachschießt. „Lasst uns den Süchtigen helfen, zerdeppern wir halt das Sparschwein“. So hoffen Regierungen weltweit, dass die Süchtigen damit über die nächsten Tage kommen. Therapeuten nennen dieses Phänomen Co-Abhängigkeit.
Dass die Aktionen im Muster von Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit in der aktuellen Krise zu Lösungen führen, muss bezweifelt werden. Paul Krugman schreibt dazu, „fast täglich kramen sie eine neue Fahne hervor, die sie den Mast emporziehen, um zu testen, ob jemand salutiert“, aber nichts passiert. Insbesondere in den reiferen Industrieländern droht die Gefahr, dass breite Bevölkerungsschichten das Vertrauen in das Wirtschaftssystem verlieren und Nervosität ausbricht. Jeder Bürger hat hierzulande im Schnitt über 1000 Euro in die Rettung allein der Hypo Real Estate beigetragen. Das ist nichts im Vergleich zu den Isländern, deren drei größte Banken allein sich mit dem Neunfachen des Bruttoinlandsprodukt verschuldeten. Täglich verstärken die Medien mit ihren Hiobsbotschaften die Baisse. Italienische Studenten fragen bereits, „warum sollen wir eure Schulden bezahlen?“ Zum Glück ist zur Panik unter Bankern noch keine Verbraucherpanik dazugekommen.
Was ist also zu tun, damit aus der Rezession keine Depression wird? Welcher Signale bedarf es, dass sich das Vertrauen in das Wirtschaftssystem wieder einstellen kann?
Regierungen müssen die breiten Bevölkerungsschichten im Blick behalten, die „middle classes“, die inzwischen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Ihr Denken hat Margaret Thatcher in unnachahmlicherweise auf den Punkt gebracht: „Man hat uns beigebracht ‚jolly hard’ zu arbeiten. Man hat uns beigebracht, uns auf uns selbst zu verlassen. Man hat uns beigebracht, mit unserem Einkommen auszukommen.“ In den „middle classes“ braut sich zur Zeit insbesondere am letzten Punkt etwas zusammen, dem begegnet werden muss. „Warum übernehmen diejenigen, die vorher angeblich so viel Verantwortung trugen, nun keine Verantwortung?“, fragt der isländische Schriftsteller Einar M. Gudmundsson. Juristisch kämen die Steuerzahler an das Vermögen der cleveren Verantwortungsträger, die es vor dem Crash in Sicherheit gebracht hätten, nicht heran. Die „middle classes“ zweifeln am Wirtschaftssystem, weil die Verantwortungsträger nicht mit dem ihnen anvertrauten Vermögen ausgekommen sind und als angestellte Manager oder Trader nicht persönlich haftbar zu machen sind. Die breiten Bevölkerungsschichten verlangen nach einer neuen Ethik in der Wirtschaft. Wenn Banker und Manager sich heute von ihren Kollegen, die sich mitreissen lassen haben, abgrenzen wollen, können sie sich dabei an den 2.400 Jahre alten Hippokratischen Eid der Ärzte halten: Primum non nocere, vor allen Dingen, schade niemandem. Schade niemandem wissentlich. Sonst würden sich Ärzten keine Patienten anvertrauen. Peter Drucker hat in seinem Buch „Management“ darauf hingewiesen, dass der Manager, der sich von den Trends seiner Berufsgruppe mitreissen lässt, auch deswegen, weil er sonst unter seinesgleichen unpopulär würde, wissentlich seinem Unternehmen Schaden zufügt. „Er unterstützt wissentlich ein krebsartiges Wachstum.“
Liebling, sie haben unsere Bank geschrumpft
Charles Handy, der Gründer der London Business School, gibt einen Rat, der in eine andere Richtung geht. Er glaubt nicht, dass man es zukünftig verhindern kann, dass Banker ihrem klassischen Job treu bleiben, Geld von denen, die etwas gespart haben an jene zu verleihen, die es benötigen. „Sie haben angefangen, nette kleine Produkte zu erfinden, ... die nicht anderes waren als ‚making money out of money’“. Handy schlägt vor, die Größe von Banken zu begrenzen. Märkte funktionierten dort gut, wo es eine sehr große Anzahl von Playern gebe und „falls dann einer ausfällt, kracht nicht gleich das ganze System zusammen.“
Was zu tun ist, weiß derzeit niemand. Für den Soziologen Niklas Luhmann sind die Verhältnisse sonnenklar, die Krise ist die Gesellschaft selber. „Wie in einem unbeabsichtigten perversen Effekt kommt bei ständigen Krisendiagnosen nach und nach heraus, daß es sich gar nicht um Krisen handelt, sondern um die Gesellschaft selbst.“
Betrachten wir die Krise zum Schluss etwas kühler. Warum versagen unsere Schutzmechanismen? Was lässt unsere hochprofessionellen Akteure immer wieder, trotz deutlicher Warnsignale, in die Krise schlittern? Warum benutzen wir immer wieder die selben Werkzeuge zur Rettung aus der Krise? Warum tauchen schon wieder die verheerenden Versuche auf, nationalstaatliche Lösungen auf Kosten anderer Länder zu schaffen? Natürlich gibt es derzeit keine Alternative dazu, Pleiten relevanter Banken zu verhindern. Aber die alte Logik, zum Beispiel die Commerzbank mit 18 Mrd. € Zusatzgeld auszustatten, um, so Finanzminister Steinbrück, „einen weiteren starken Player“ zu schaffen, greift zu kurz. Wenn wir, wie Charles Handy es vorschlägt, überhaupt keine starken Player mehr haben wollen, müssen wir unsere Werkzeuge revidieren. In einer unübersichtlichen Gesellschaft gibt es gute Gründe, Abschied zu nehmen von einer Vernunftphilosophie und klassischen Denkmustern. Wir verstehen die komplexe Welt nicht mehr und stellen darauf um zu beobachten, was passiert. Der intelligente Beobachter, der sich außerhalb sich selbst stabilisierender Denkmuster bewegt, wird zur Schlüsselfigur im Komplexitätszeitalter. Ein intelligenter Beobachter wie zum Beispiel der Organisationsforscher Karl E. Weick von der University of Michigan. Anhand seiner Organisationstheorie können wir sehr genau die Gründe nachvollziehen, warum es uns extrem schwerfällt, Werkzeuge und Denkmuster fallen zu lassen. Weick forscht seit Jahrzehnten zu diesem Phänomen. Der Widerwille, ein Werkzeug fallen zu lassen, ist ein wiederkehrendes Problem in vielen beruflichen Situationen. Düsenjägerpiloten neigen zu einem ähnlichen Verhalten, wenn sie zögern, ihre Maschine, die ins Trudeln gerät, mit dem Schleudersitz zu verlassen. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Kokon des Cockpits“. Marinesoldaten verweigern bei Schiffbruch-Vorfällen immer wieder die Befehle, ihre kantigen Sicherheitsschuhe auszuziehen und durchlöchern damit die rettenden Schlauchboote. Die Investmentfirma LTCM nutzte Mitte der 1990er-Jahre ein neuartiges mathematisches Anlagekonzept, das Black-Scholes-Modell, und erzielte zunächst eine Rendite von dreißig bis vierzig Prozent. Allerdings hielt man am bewährten Konzept auch während der starken Turbulenzen auf den Finanzmärkten im Zusammenhang mit der russischen Währungskrise von 1998 fest. Das Kapital von LTCM sank rapide auf ein Fünfhundertstel des Nennwerts von damals 1,25 Billionen Dollar. Als ein Zusammenbrechen des amerikanischen Finanzsystems befürchtet wurde, musste damals eine umfassende Rettungsaktion eingeleitet werden.
Weick nennt zehn Gründe, die es uns erschweren, nutzlos gewordene Werkzeuge wegzuwerfen. Im Krisen-Getöse hört man zunächst einmal, ganz banal, Zurufe und Signale vor warnenden Stimmen schlecht. Gewohntes Verhalten behält man solange bei, bis man plausible Gründe dafür findet, daran etwas zu verändern. Besteht kein enges Vertrauensverhältnis zu den Vorgesetzten, Experten oder Mahnern, werden deren Anweisungen in Krisensituationen einfach nicht befolgt; außerdem könnten auch die Chefs oder Experten Fehler machen. Wissen, Erfahrungen und Technologien basieren auf tiefsitzenden Ursache-Wirkung-Beziehungen; zum Beispiel war in der Katastrophensituation das Nichtwegwerfen des Werkzeugs eine Ursache-Wirkungs-Beziehung für das Überleben. Wer das Wegwerfen von Werkzeugen nie geübt hat, kann es in der Extremsituation nicht so einfach; Weick berichtet von Fällen, dass zum Beispiel Feuerwehrleute selbst in lebensbedrohlichen Situationen für das zurückbleibende Werkzeug erst einen sicheren Platz suchten. Alternative und verblüffende Handlungen intelligenter Akteure verstehen routinierte Teams nicht, sie sind nicht anschlussfähig. Pluralistische Ignoranz entsteht, wenn die Leute in einer Reihe laufen, in der der Erste die Gefahr kaum spürt; der Letzte, der die nahende Gefahr am stärksten spürt, trägt das höchste Risiko, wirft aber sein Werkzeug deshalb nicht weg, weil der Vordermann noch einen so sicheren Eindruck macht. Und nicht zuletzt, Werkzeuge wirft man nicht weg, weil sie Teil der beruflichen Identität sind. Ob Tulpenkäufer, Feuerwehrteams, Piloten, Banker oder Co-Abhängige, Werkzeuge sind identitätsstiftende berufliche Muster, die zum blinden Fleck werden können.
Zum Nachlesen:
Peter Drucker, Management, revisted edition, 2008, hier: S. 222
Einar M. Gudmundsson, Darf ich Ihnen das Einwohnerverzeichnis anbieten?, in: Süddeutsche Zeitung, 17. Februar 2009, S. 11
Charles Handy im Gespräch mit Kai Ryssdal, „Taking stock: Get banks smaller“, 08. Januar 2009, siehe www.marketplace.publicradio.org
Niklas Luhmann, Am Ende der kritischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 148
Peer Steinbrück zitiert nach Lucas Zeise, Schrumpft sie!, in: Financial Times, 17.02.2009, S. 25
Karl E. Weick, Drop your tools: on reconfiguring management education, in: Journal of Management Education, February 2007, S. 5-16
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