„Wo sind die Botschafter der Demokratie und der Zivilgesellschaft?“
Die moderne, in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft erlebte jahrzehntelang eine Periode der Ausdifferenzierung und entwickelte in offenen Prozessen eine Vielzahl unbekannter Zukunftsmöglichkeiten. Sie könnte aber jetzt in eine Phase der De-Differenzierung und Simplifizierung eintreten. Wir stellen mit Erschrecken fest, dass die Menschenrechte auch in der „freien Welt“ unter Druck stehen. Diese Werte müssen verteidigt werden. Mit Kanzlerin Merkels Statement nach der Trump-Wahl wurden die Pflöcke eingeschlagen. Werte sind nicht verhandelbar.
Vielleicht sind die gegenwärtigen Entwicklungen aber, bei aller Radikalisierung in Ländern wie Ungarn, Polen und jetzt in den Vereinigten Staaten, auch ein Ausdruck für eine weitere Ausdifferenzierung. Wer sich an die Sinus-Studie aus den 1980er Jahren erinnert, muss sich heute wundern, dass sich das politische Radikalisierungspotenzial hierzulande erst jetzt in zweistelligen Prozentzahlen bei Wahlen niedergeschlagen hat.
Gehen wir also zunächst einmal davon aus, dass wir in eine neue Phase von Wechseln zwischen gleichzeitiger Aus- und De-Differenzierung eintreten. Wir können dies derzeit auch insbesondere in Unternehmen beobachten. Dort findet allerorten, ob in gewinnorientierten, gemeinnützigen oder öffentlichen Organisationen eine Enthierarchisierung statt. Die Gründe finden sich in den komplexen Herausforderungen durch die Wissensarbeit oder durch neue Sensibilitäten der Generationen Y und Z, die sich an den Unternehmenskulturen des Silicon Valleys oder an Start-ups orientieren. Gleichwohl erleben wir in Unternehmen nach Phasen der Dezentralisierung eine Re-Zentralisierung. Oder die öffentlichen Institutionen, nach Phasen der Privatisierung und Liberalisierung erleben wir in bestimmten Bereichen Re-Verstaatlichungen und straffe Regulierungen.
Krisen, Zerstörung und Verfall gehören zur Moderne und können Auslöser für neue Funktionen und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklungen sein. Niklas Luhmann drückt das so aus: „Wie in einem unbeabsichtigten perversen Effekt kommt bei ständigen Krisendiagnosen nach und nach heraus, dass es sich gar nicht um Krisen handelt, sondern um die Gesellschaft selbst.“
Besinnen wir uns also auf die bewährten Handlungsmuster der sich weiterentwickelnden offenen Gesellschaft: Vernunft, Sachlichkeit und Kommunikation. Vernunft und Sachlichkeit sind in den Zeiten des Post-Faktischen besonders unter Druck geraten. Wer sachlich bleibt, braucht Zeit für die Erklärung. Die moderne Welt ist komplex, politische oder unternehmerische Entscheidungen sind in Talkshows oder über Twitter schwer erklärbar. Die Zeit läuft uns davon. Populisten haben da einen Vorteil, sie können mit ihren emotionalen Mustern und Polemiken einfach schneller überzeugen. Nur die (politische) Bildung in die Breite der Bevölkerung wird es in Zukunft ermöglichen, dass der Stammtischdiskurs nicht mit einem Ausrufungs- sondern mit einem Fragezeichen endet.
Bleibt uns die Kommunikation. Hier finden wir gegenwärtig die Ursache für die meisten Fehler. Insbesondere die Nicht-Kommunikation des „Establishments“ mit den Exkludierten rächt sich. Die Anti-Eliten-Stimmung gründet auf einem Versagen beim Zuhören. Wer sich vergessen, unbeachtet und betrogen fühlt, bei dem staut sich Wut auf. Wer lernt zuzuhören, kann das erkennen, muss darauf reagieren und sich der Diskussion stellen.
Und wer übernimmt die wichtigste Rolle in dieser Kommunikation, wo sind die Botschafter der offenen Gesellschaft? Es reicht nicht zu sagen, „dafür ist die Politik zuständig“. Starke Institutionen und Organisationen und reflektierte Führungskräfte in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die Bildung als Lebensaufgabe verstehen, sind die zentralen Instanzen, um die Demokratie zu sichern.
Der Chefredakteur des New Yorker hat es am 9. November auf den Punkt gebracht: „To combat authoritarianism, to call out lies, to struggle honorably and fiercely in the name of American ideals—that is what is left to do. That is all there is to do.”
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