Zum Ende dieses Jahrzehnts wird immer klarer, klassische Karriereverläufe wird es nicht mehr geben, nie mehr geben. Das Zeitalter der großen Organisationen, die unsterblich schienen, geht zu Ende und mit ihnen die Möglichkeit, irgendwann in der eigenen Berufsbiographie die Chance nutzen zu können, einen Job in einem großen Unternehmen anzunehmen, der berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und Wohlstand auf lange Zeit sichert.
Die Wirtschaftskrise hat die großen Unternehmen durcheinandergewürfelt. Hochprofitable Unternehmen wurden innerhalb von Wochen zu Sanierungsfällen. An viele noch vor zwei Jahren etablierte Banken, Industrie- oder Handelskonzerne wird man sich in zehn Jahren kaum mehr erinnern. Die durchschnittliche Lebensdauer aller Unternehmen liegt heute bei einem Dutzend Jahren, selbst die TOP 500 Unternehmen überleben kaum drei Mal länger. Das heißt, selbst wenn Sie immer bei einem Arbeitgeber beschäftigt bleiben wollen, müssen Sie sich heute in Ihrem Berufsleben statistisch gesehen zwei Mal einen neuen Arbeitgeber suchen. Ihre Firma hat sich einfach aufgelöst. Für Soziologen wie Niklas Luhmann ist das nichts Überraschendes. Wer die Gesellschaft genau beobachtet, erkennt, dass die Krise die Gesellschaft selber ist: „Wie in einem unbeabsichtigten perversen Effekt kommt bei ständigen Krisendiagnosen nach und nach heraus, daß es sich gar nicht um Krisen handelt, sondern um die Gesellschaft selbst.“
Das Verhalten und die Orientierung der „middle classes“, die inzwischen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, bleibt der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Ihr Denken hat Margaret Thatcher unnachahmlich zusammengefasst: „Man hat uns beigebracht ‚jolly hard’ zu arbeiten. Man hat uns beigebracht, uns auf uns selbst zu verlassen. Man hat uns beigebracht, mit unserem Einkommen auszukommen.“ In den „middle classes“ braut sich zur Zeit insbesondere am letzten Punkt etwas zusammen, dem begegnet werden muss. „Warum übernehmen diejenigen, die vorher angeblich so viel Verantwortung trugen, nun keine Verantwortung?“, fragt der isländische Schriftsteller Einar M. Gudmundsson. Die „middle classes“ zweifeln am Wirtschaftssystem und ihren Chefs, weil die Verantwortungsträger nicht mit dem ihnen anvertrauten Vermögen ausgekommen sind und als angestellte Manager oder Trader nicht persönlich haftbar zu machen sind. Die „middle classes“ sind leistungsorietiert und verabscheuen ungerechtfertigte Entlohnung.
Der Managementdenker Tom Peters wies bereits vor fast zwanzig Jahren darauf hin, dass wir im Beruf und in den Unternehmen ein neues Selbstverständnis brauchen. Peters interpretierte in einer Zeitungskolumne mit dem Titel A Return to Self-Reliance das Anwachsen der Selbstständigkeitsrate als eine Rückbesinnung auf den Geist des Philosophen Ralph Waldo Emerson. Dieser setzte 1841 in seinem Essay Self-Reliance auf die Fähigkeit, sich auf sich selbst zu verlassen. In den Industrieländern hat die Selbstständigkeitsrate zugenommen und liegt zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Hierin sieht Peters ein positives Signal, um möglicherweise wieder das Verhältnis von 1900 zu erreichen, als knapp die Hälfte der Erwerbstätigen selbstständig war. Nicht den Zustand einer hohen Rate von angestellter Beschäftigungsverhältnisse sieht Peters als normal an. Die Ära der überlegenen Großunternehmen gehe zuende und werde als Ausnahmeerscheinung in die Geschichte eingehen. Die jungen virtuellen Unternehmen seien die aktuellen Erscheinungen des Emersonian spirit, deren Unternehmergeist wieder auf die ganze Wirtschaft wirken solle. Für Peters wie für Emerson gilt: setze auf das Subjekt, vertraue auf seine Stärken und seinen Unternehmergeist.
Für viele Beschäftigten der „middle classes“ ist Selbständigkeit aus vielerlei Gründen aber keine Option. Sie suchen beispielsweise bei der Arbeit nach einem Clubgefühl. Man möchte dazugehören. Aber Organisationen brauchen heute immer weniger Mitglieder, die da sind und das Clubgefühl pflegen. Der Sozialphilosoph Charles Handy stellt fest, dass Organisationen heute mehr Organisers als Arbeitgeber sind und bringt die weitere Entwicklung damit auf den Punkt. Unsere Vorstellung von Organisation deckt sich nicht mehr mit der Wirklichkeit der Organisation. Organisationen haben für Charles Handy neue Strukturen bekommen und sind zu Kleeblättern geworden. Die Kleeblattorganisation besteht aus drei Teilen. Das Blatt der Stammbelegschaft besteht aus dem Management und wichtigen Mitarbeitern. Das zweite Blatt wird von externen Spezialisten gebildet, die zu einzelnen Projekten hinzugezogen werden und die nach Leistung entlohnt werden. Die letzte Gruppe sind flexible Arbeitskräfte, die nur bei Bedarf eingestellt werden. Mehr und mehr werden wir uns daran gewöhnen müssen, unsere Arbeitszeit nicht mehr allein an bestehende Organisationen verkaufen zu können. We are going portfolio. Wir werden wieder lernen müssen, Vollzeitbeschäftigung durch Teilzeitbeschäftigung, Teilzeit-Selbständigkeit oder Vollzeit-Selbständigkeit zu kombinieren.
Eine weitere Chance, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen besteht darin, zu lernen, unsere Chefs zu führen. Die „nächste Gesellschaft“ ist eine Gesellschaft, die von Wissensarbeitern geprägt wird. Peter Drucker hat diesen Paradigmenwechsel bereits vor fünfzig Jahren voraus gesehen und ihn in seinem letzten Buch „Managing in the next Socety“ (2002) nochmals zusammengefasst. Peter Druckers Vorschläge für Organisationen und Management zielen im Kern darauf, die Produktivität von Wissensarbeitern zu erhöhen, wobei er hinzufügt, dass es zwar auf den Einzelnen ankomme, aber Wissensarbeiter nur gemeinsam in Organisationen das Wissen zur Anwendung bringen können. „Wissen wird qua Definition spezialisierter. Angewandtes Wissen wird effektiver, wenn es spezialisiert ist. Und je spezialisierter es ist, um so effektiver wird es.“ Für jeden von uns, ob Wissensarbeiter oder Führungskraft, wachsen daraus Chancen, aber auch ganz neue Fragen und Probleme. Jeder von uns wird es lernen müssen, anderen, die nicht dieselbe Wissensbasis haben, erklären zu können, worin die Bedeutung dieses spezialisierten Wissens besteht. Wir werden verantwortlich dafür, dass unser Wissen einen Beitrag für die Organisation, ja sogar für die Gesellschaft liefert. In Zukunft wird es einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil geben: wer kann Wissen systematisch anwenden. Jede Organisation und jeder Portfolio-Worker wird sich über diesen Schlüsselfaktor behaupten und legitimieren müssen. Darüber hinaus impliziert das Management von Wissensarbeitern, dass jeder einzelne dieser Wissensarbeiter dafür verantwortlich wird, den Kollegen zu erläutern, worin sein Beitrag für die Organisation bestehe. Die Organisation wird dann leistungsfähig, wenn jeder laufend seine neu hinzu gewonnenen Erkenntnisse, Erfahrungen und Wissenssprünge mit den Kollegen teilt. Die Ressourcen der Wissensorganisation hängen immer stärker von Partnerorganisationen, Kooperationen und Individuen ab, die das Management nicht kontrollieren kann und denen es keine Anweisungen geben kann. Noch ein Zitat von Peter Drucker: „In der traditionellen Organisation der Massenproduktion hat der Mitarbeiter dem System zu dienen. In der wissensbasierten Organisation ist das System dazu da, dem Mitarbeiter zu dienen.“ Wissensarbeiter handeln weitgehend autonom und müssen sich selbst führen können. Das Management hat dann den Job, für Ziele zu sorgen und die Organisation auszurichten.
Müssen wir unser Berufsleben wirklich so kompliziert machen? Alle Erfahrung spricht dagegen. Von Diogenes über Thoreau bis zum Theologen Werner Tikki Küstenmacher, jeder dieser Ratgeber empfiehlt die Vereinfachung. Entrümple! Reduziere! Das ist die klassische Antwort, wenn wir wir fragen: was ist zu tun, wenn alles komplexer wird?
Die Basis eines neuen beruflichen Selbstverständnisses wird nicht mehr durch Kausalität und Rationalität bestimmt, sondern durch Offenheit im Denken. In einer postklassischen Welt der Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit, in der viele Faktoren rationales und optimales Entscheiden unmöglich machen, wird der nicht domestizierte Wissensarbeiter zur entscheidenden Figur - durch seine Freiheit und seinen Mut, bisweilen durch seine Wut auf das Bestehende und seine Suche nach der Lücke. Wer heute in Unternehmen, Schulen, Theater oder Verwaltungen arbeitet, sie mit gestaltet oder sie leitet, muss Gegensätze und Paradoxien ausloten und sich mit beunruhigenden Ungewissheiten anfreunden.
Um Ihnen eine Ahnung zu geben, wie man im Komplexitätszeitalter anders beobachten und handeln kann, stellen Sie sich einen belebten Strand vor, ein einfaches Beispiel für eine komplexe soziale Welt. Am Strand gibt es keine Regeln, keine Zäune, keine festgeschriebenen Verhaltensanweisungen. Jeder neue Besucher beobachtet zunächst. Der eine versucht sich eine Privatsphäre zu schaffen, ein anderer versucht Privatsphären zu zerstören. Alles ist offen. Am Strand entsteht laufend, spontan und unerklärlicherweise etwas Neues. Strände scheinen denken und handeln zu können. Strände steuern sich selbst. Ähnlich funktionieren heute Wirtschaft, Medien oder Kunst. Wenn wir genau hinsehen, finden wir heute überall selbstgesteuerte soziale Prozesse mit unklaren Regeln, an die sich sowieso kaum noch jemand hält. Und es entstehen laufend neue Regeln, die kaum mehr jemand überblickt. Im Vorteil ist, wer sich von Komplexität nicht irritieren lässt, sie gar nicht mehr zu ergründen versucht, sondern einfach handelt und aus der Rückkopplung auf das Handeln auf die neuen Mechanismen schließt. Im Komplexitätszeitalter sind Lückensucher gefragt, in Unternehmen, im Sozialen, in Karriereverläufen, ja in jeder sozialen, also komplexen Welt.
Wenn wir uns im Berufsleben uns also auf uns selbst verlassen, gehen wir mit Komplexität nicht strategisch um. Wir müssen gar nicht alles wissen, um richtig entscheiden zu können. Je komplexer das Umfeld, umso sinnloser sind langfristige Planungen, denn mit Optimierungen verliert man Zeit (denn man kann nur die heutigen Probleme lösen), und mit Orientierungen auf Ursachen und Wirkungen verrennt man sich leicht in Sackgassen. Komplexitätskünstler beobachten und entscheiden trotz des mangelnden Überblicks in diesem Labyrinth der Relationen. Das fasziniert den Wissensarbeiter der „nächsten Gesellschaft“ und das fordert ihn heraus.
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