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Der Quellcode des modernen Managenents – Parker Follett, Drucker, Simon, Weick und March

Auszug aus: Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft, 2024, eBook (Amazon Kindle, http://tiny.cc/9eznzz )


Fotoquelle: Archäologisches Institut, Georg-August-Universität Göttingen





„Leaders and followers are both following the invisible leader – the common purpose.”

 Mary Parker Follett, 1922

 

„Though we talk glibly of configuration, purpose and process,  we do not yet know what these terms express.”                                          Peter Drucker, 1957

 

Beide Zitate weisen darauf hin, dass der Begriff Purpose im Kontext von Wirtschaft, Management und Gemeinwohl nicht erst seit wenigen Jahren diskutiert wird und als Modeerscheinung angesehen werden kann. Gewinnstreben und Gemeinwohlorientierung sind die beiden Seiten einer Medaille, zu dem die Vordenkerin des modernen Managements Mary Parker Follett und der Vordenker Peter Drucker schon vor vielen Jahrzehnten Begriffe und Konzepte entwickelten.


Sucht man nach dem Quellcode des modernen Managements mit dem etwas simplen Stichwort „Vater des Managements“, gibt es in Suchmaschinen bemerkenswerterweise unzählige Treffer, insbesondere zu Peter Drucker (1909-2005). Die alltagssprachliche Bezeichnung „Vater“ des modernen Managements beruht aber auf einem Irrtum, die Väter sind eine Mutter, die kaum jemand kennt. Denn Peter Drucker oder auch ein anderer Vordenker des Managements, wie zum Beispiel Warren Bennis, weisen beim Quellcode moderner Ansätze auf eine Vordenkerin hin, auf Mary Parker Follett (1868 - 1933). Ihr gebühre die Ehre, die bahnbrechenden Innovationen zum Management erstmals in die Welt gebracht zu haben. Die Vordenkerin war aber schon bald nach ihrem Tod (1933) in Vergessenheit geraten. Recherchieren Sie mal zum Stichwort „Mutter des Managements“, Sie werden auf den deutschsprachigen Websites nichts finden.


Zur Entwicklung und Geschichte des modernen Managements passt folgende Anekdote. Der frühere Direktor des Genfer International Management Institute, Lyndall Urwick, wies Peter Drucker 1951 darauf hin, dass seine Texte für die American Management Assosiation sehr denen von Mary Parker Follett ähnelten. Drucker fragte ihn daraufhin, „Mary who?“ Drucker recherchierte daraufhin Parker Folletts Texte und nannte sie dann später, im Vorwort einer Parker Follett-Anthologie, „the prophet of management“ (Drucker 1995). Warren Bennis bezeichnete sie als “swashbuckling advance scout of management thinking” und fasst ihren Einfluss so zusammen, "just about everything written today about leadership and organizations comes from Mary Parker Follett's writings and lectures" (Bennis 1995).  Henry Mintzberg deutet ihr Werk auf diese Weise, „wir sind immer noch hypnotisiert von der Idee der Hierarchie nach Fayol. Und sind allzu oft blind für die Einsicht der gleichrangigen Zusammenarbeit, dieses wunderbare Konzept der ‘kollektiven Verantwortung‘ nach Mary Follett” (Mintzberg 1995). Mary Parker Follett kann also als eine abenteuerliche Pfadfinderin im organisationalen Durcheinander gelten, deren Verdienste für das moderne Management nicht hoch genug einzuschätzen sind. Dass sie in Vergessenheit geraten ist, übrigens wie viele spätere Vordenkerinnen und Vordenker in der Managementtheorie und -praxis, liegt an einer populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur, in der selten auf Primärquellen originärer Autorinnen und Autoren hingewiesen wird oder Autoren sich nicht die Mühe machen ausführlich zu recherchieren (vgl. Weber 2005).


Dabei fällt eine bemerkenswerte Parallele zwischen der wichtigsten Vordenkerin Mary Parker Follett und dem wichtigsten Vordenker Peter Drucker auf. Beide beschäftigen sich zunächst mit Demokratietheorie und publizieren zunächst vorwiegend Texte zu Fragen der Weiterentwicklung der liberalen Demokratie. Beide gründen ihre späteren Bücher und ihr Denken über Organisation und Führung eher nicht auf betriebswirtschaftlichen, sondern auf sozial- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen (Drucker spricht von „management as a liberal art“ und Follett bezieht sich auch zunächst auf praktische Erfahrungen zum sozialen Zusammenhalt und zu sozialen Innovationen). Eine weitere Parallele bei beiden Lebensläufen, erst im Alter von über vierzig Jahren sollten Managementthemen bei Parker Follett sowie bei Drucker zu einem späten Forschungsschwerpunkt werden, deren persönliche Leistung und Tragweite für Demokratie- und Managemententwicklung auch heute noch kaum gesehen und rezipiert werden.


In Folletts damals viel beachteten Büchern “The Speaker of the House of Representatives“ (1896) und „The New State - Group Organization. The solution of Popular Government” (1918) plädierte sie dafür, dass Demokratie gelernt werden müsse. ”Sooner or later every one in a democracy must ask himself, what am I worth to society?” (Follett 1918). Ihre Fragen drehten sich um die neuen Herausforderungen für die Politik (u.a. als Beraterin von US-Präsident Theodore Roosevelt), um Gruppendynamik, Machtspiele, das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, die Bewahrung von Pluralität und Vielfalt. Ihre Zukunftsentwürfe für eine praktische Politik zielten auf Partizipation, Dezentralität, Machtbalance, Interdependenzen, zivilgesellschaftliches „self-government“ und die wichtige Rolle des lokalen Gemeinwesens. „The study of democracy has been based largely on the study of institutions; it should be based on the study of how men behave together” (ebd., S.19) und an anderer Stelle, “Moreover in society every individual may be a complete expression of the whole … When each part is itself potentially the whole, when the whole can live completely in every member, then we have a true society” (ebd., S. 77).

Auch Drucker wurde zunächst bekannt durch seine Totalitarismusforschung. Dessen Buch "The End of Economic Man. The Origin of Totalitarianism" (1939), im amerikanischen Exil geschrieben, gilt in Großbritannien und Japan schon lange als Klassiker. Drucker formulierte als einer der Ersten eine Theorie des Totalitarismus und analysierte die ökonomischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen totalitärer Systeme im europäischen Kontext. Sein Buch wurde zum Beispiel von Winston Churchill lobend rezensiert (Churchill 1939). Drucker arbeitet heraus, dass Faschismus "reine Negation" verkörpere, die auf "nackter Autorität" ohne jede Legitimität basiere. Die europäische Krise erklärt er mit dem Zerfall des liberalen Versprechens und dem individualisierten Individuum, das anfällig werde für Sündenbocktheorien und Massensuggestion. Wie auch bei Parker Follett waren es Zufälle, die Drucker dann ab Mitte der 1940er Jahre zu den sozialwissenschaftlichen Grundlagen des Managements führen sollten.


Es ist verblüffend, dass Parker Follett und Drucker beide ihre gesellschaftlichen und politischen Demokratieanalysen erweiterten, indem sie sie auf das soziale System der Organisation und die Funktion des Managements übertrugen.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Managementinnovationen von Mary Parker Follett (geb. 1868) ist ihr Lebenslauf. Schon als Mädchen musste sie früh familiäre Verantwortung übernehmen. Ihr Vater starb in ihrer Jugendzeit, ihre Mutter war körperlich behindert. Ausgestattet mit Selbstdisziplin und Hartnäckigkeit schrieb sie sich 1892 in die Society for the Collegiate Instruction of Women in Cambridge/Massachusetts ein und studierte Staatslehre, Jura, Philosophie und Wirtschaft. Nach ihren umfangreichen Studien zum Regierungshandeln und ihrer Promotion summa cum laude am Ratcliffe College (1898) setzte sie sich von 1900 bis 1915 als Social Entrepreneur und „voluntary social worker“ für Benachteiligte in Boston ein. Sie gründete mehrere soziale Zentren, unter anderem um junge Einwanderer in Bostoner Vororten zu integrieren. 1911 war sie bei der Gründung des East Boston High School Social Center beteiligt, einer weiterführenden Schule, die Abendkurse für sozial Benachteiligte anbot. Als sie dann Mitte der 1910er Jahre mit Industriemanagern wie Henry S. Dennison oder später B. Seebohm Rowntree in Kontakt kam, sollte sich ihr Wirken und die Resonanz auf ihre sozialen Innovationen auf wichtige Entscheidungsträger der Wirtschaft ausdehnen. Aus einer Sozialarbeiterin und Managerin des Bostoner Sozialraums sollte sich die Prophetin des modernen Managements entwickeln. Mit ihrer Theorie menschlicher und gesellschaftlicher Interaktion hat sie mit ihren wegweisenden Führungsmodellen ein Anwendungsgebiet entdeckt, das im 20. Jahrhundert als eine Ära einer Gesellschaft von Organisationen, das Management als soziale Funktion und Innovationsfaktor einer liberalen Gesellschaft ins Zentrum rückt.


Der Journalist Mark Gimein fasste in Fortune einmal die Breitenwirkung von Managementphilosophen, hier bei Tom Peters (der als erster US-Wirtschaftsbestseller-Autor im Economist als einer der „Ur-Managementgurus“ bezeichnet wurde und sich selbst als Schüler von Peter Drucker bezeichnet) auf das Management zusammen: „Now that we live in a Tom Peters World“ (Gimein 2000). Tom Peters, der für die Medien erste Managementphilosoph der „managerial masses“ (ebd.), wird wohl in Vergessenheit geraten. Die große Vordenkerin Mary Parker Follett wird aber als diejenige in die Geschichte der Managementprofession eingehen, die den Quellcode des modernen Managements maßgeblich mitgestaltet hat. Gleichwohl blieben ihre Erkenntnisse außerhalb eines kleinen Netzwerks von Experten bis heute unbekannt, vermutlich weil ihre Ansätze im Bereich der Humanbeziehungen und nicht im Paradigma der rationalistischen Betriebsführung eines Frederick Taylors oder Henry Fayol verortet waren und wohl auch, weil sie jahrzehntelang als Frau in einer Männerdomäne kaum ernst genommen wurde.


Mary Parker Follett hielt 1925 als Vice-President der National Community Center Association in New York auf der Jahreskonferenz beim „Bureau of Personnel Administration“ vor Personalmanagern den bemerkenswerten Vortrag: „The Psychological Foundations of Business Administration“. Wie Gemeinden oder Städte waren Organisationen für Follett soziale Systeme, die sich aus Netzwerken von sozialen Gruppen zusammensetzten. Ein ‘self-governing principle’ wäre die angemessene Führungsleitlinie, um “the growth of individuals and of the groups to which they belonged” zu gewährleisten. Wenn Geführte gemeinsame Ziele erreichen wollten, sei es sinnvoll, dass sie direkt miteinander interagierten. "Moreover, we have now to lay somewhat less stress than formerly on this matter of the leader influencing his group because we now think of the leader as also being influenced by his group” (Parker Follett 1995). Follett entwickelt ein Führungsmodell, in dem die Konzepte von Macht, Autorität und Hierarchie durch zirkuläre Vorgehensweisen abgelöst werden. Die Kategorien Führende und Geführte lösen sich für Follett auf.

“These psychologists were making tests, they said, for aggressiveness, assuming that aggressiveness and leadership are synonymous, assuming that you cannot be a good leader unless you are aggressive, masterful, dominating. But I think, not only that these characteristics are not the qualities essential to leadership, but, on the contrary, that they often militate directly against leadership.” (Parker Follett 1949)


Einige zentrale Begriffe und Thesen entwickelte Follett aus der Beobachtung von hierarchischen Führungsprozessen. Ein klassischer Führungsansatz in hierarchischen Strukturen schwäche die Strukturen einer Organisation. Macht sei neu zu definieren. Moderne Führung basiere nicht mehr auf „power over“, sondern auf „power with“.  Wer Macht verstehe als „Macht-über“, um eigene Ziele durchzusetzen, handle (selbst-) zerstörerisch. Es brauche dann immer noch mehr Einsatz von Macht, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Im Management gehe es immer und in erster Linie um eine Zusammenarbeit mit anderen. Im Zentrum stehe interaktive Einflussnahme, und es gehe um Gruppenprozesse mit potenzieller Selbstorganisation statt um Stabilisierung hierarchischer Strukturen. „Das Studium der Gemeinschaft als ein Prozess löst Hierarchie auf, denn es lässt uns eher das Qualitative als das Quantitative betonen.“ (Follett 1918)


Folletts Kritik zielte auf die vorherrschende autokratische Führung. Sie hob die Bedeutung der Geführten hervor, die viele subtile Mittel besäßen, sich Befehlen und willkürlichen Anordnungen zu widersetzen. Für Follett verfolgen Geführte und Führende ein gemeinsames Ziel. Mitarbeitende müssten bei Entscheidungen einbezogen werden. Und Mitarbeitende wollten von sich aus gute Arbeit leisten. Intrinsische Motivation sei der Normalfall und könne leicht zerstört werden. Wer autokratisch führe, riskiere die Abnahme des Verantwortungsgefühls der Mitarbeitenden. Nur über eine andere und bessere Ausbildung des Managements werde es möglich, bessere Ergebnisse zu erzielen und Veränderungen bisheriger Praktiken zu ermöglichen. Gerade bezüglich des Umgangs mit Macht, mit Anordnungen und Befehlen gelte es fast alles anders zu machen. Anordnungen seien zu de-personalisieren, Strafen seien abzuschaffen. Und falls es Anordnungen gebe, müssten sie immer begründet werden.


Ein weiterer zentraler Fokus ihres Führungsmodells war ihre Theorie zum Konfliktmanagement. Konflikte seien allgegenwärtig in allen Lebensbereichen („fact of life“). Konflikte seien anzuerkennen, und man könne als Führungskraft sie für die Organisation arbeiten lassen („make to work for us“). In Demokratie und Organisationen verkörperten Konflikte die „Differenz von Meinungen und Interessen“, und ohne Konflikte gebe es keinen Fortschritt.

Lösungen für Konflikte wiederum dürften nicht von oben vorgeschrieben werden. Sie müssten in den Teams selbst gefunden werden. Forderungen der unterschiedlichen Organisationmitglieder müssten Interessen und Bedürfnisse anderer berücksichtigen. Und nicht zuletzt müssten Bedürfnisse ausgesprochen, beachtet und respektiert werden.Bahnbrechend war ebenfalls Folletts praktischer Ansatz von Konfliktlösungen. Die einfachste Möglichkeit zur Konfliktlösung stelle die „domination“, die Dominierung dar. Eine Seite gewinne gegen die andere, was langfristig selten erfolgreich wäre. Die zweite Variante bezeichnet sie als „compromise“. Kontroversen würden dann bei Kompromissen größtenteils beglichen. Jede Seite gebe ein bisschen auf, um Frieden herzustellen und erreiche eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Konfliktlösung. Das Problem: niemand bekomme, was jede Seite wirklich möchte, alle müssten etwas aufgeben. Die für Follett richtige Konfliktlösung war die „integration“, wobei hier der Fokus auf den Interessen statt den Positionen liege. Beide Seiten bekämen, was sie möchten. Alle Wünsche und Bedürfnisse würden im Wesentlichen erfüllt, niemand müsse etwas aufgeben.


Mary Parker Follett, als Avantgardistin bahnbrechender Thesen zum Umgang mit Macht, zum Wissensmanagement, zur sozialen Netzwerktheorie der Organisation, zur Rolle der Organisation in der liberalen Demokratie, zum Konfliktmanagement und das von ihr stammende "self-governing principle" haben heute Eingang in alle modernen Formen im Prozess des Organisierens gefunden. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Praxis, wie wir heute die Arbeitswelt organisieren, dass die Ursprünge des modernen Managements maßgeblich auf das Wirken einer Bostoner Sozialwissenschaftlerin, Demokratieforscherin und sozialen Unternehmerin zurückgehen, die bis heute leider kaum jemand kennt.

Damit ist der Ausgangspunkt für dieses Buch, das die aktuellen Veränderungen in Wirtschaft, Management und Gesellschaft mit dem Begriff „Purpose“ in Verbindung bringt, eine Verschiebung in der Organisations- und Managementtheorie, die auf wenige Vordenkende zurückgehen, wie Mary Parker Follett.


Neben Mary Parker Follett sollten vor allem Peter Drucker, Herbert Simon, James March oder Karl Weick zu den anerkannten Vordenkern des modernen Managements gezählt werden. (siehe dazu im deutschsprachigen Raum die empirische Studie unter Führungskräften von Weber, 2005)


In „Landmarks of Tomorrow“ (1957) deutete Drucker die Grundzüge einer Purpose-Wirtschaft an. Er kündigte den Abschied von der mechanischen Welt der Ursachen und Wirkungen und eine Hinwendung zu einer Welt der Muster, Ziele und Prozesse, eine Verschiebung zu einem „universe of configuration, purpose, and process“ (ebd.) an. Seit Drucker diese harmlos erscheinenden Begriffe in einen Zusammenhang brachte, muss sich das Management den Kopf darüber zerbrechen, wie Unternehmen einerseits ihre Routinen erhalten, Gewinne erzielen und sich andererseits laufend erneuern und gesellschaftlichen Erwartungen anpassen können. Denn niemand anders als das Management muss diese unauflöslichen Widersprüche, denen Organisationen in der modernen Gesellschaft ausgesetzt sind, in alltägliche Entscheidungen und eigenverantwortliches Handeln überführen.

Im Jahr 2009, aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Peter Drucker, diskutierten Führungskräfte und Managementexperten dessen Befunde zu wegweisenden Managementinnovationen (siehe die Anthologie, herausgegeben von Weber, 2009). Allein in China fanden aus diesem Anlass sechs Konferenzen mit jeweils mehr als 10.000 Gästen statt. Vor welchen Herausforderungen würde das Management im 21. Jahrhundert angesichts dieses „universe of configuration, purpose, and process“ stehen? Der Soziologe Dirk Baecker brachte das von Drucker beschriebene Dilemma für das Management auf den Punkt. Wer heute managt, kündigt das Neue an und fordert gleichsam zur Wiederholung auf. „Management hat sich damit gegenüber einer Welt geöffnet, die immer zugleich Erfindung und Realität ist, dies aber nie auf dem gleichen Fuße. Erfindung und Realität reiben sich aneinander, ohne dass je das eine auf das andere reduziert werden könnte. Der Prozess geht genau damit um. Er setzt einen Anfang, um diesen im Zuge des Prozesses reinterpretieren zu können. Er setzt ein Ziel, um im Hinblick auf dieses Material und Personal rekrutieren und integrieren zu können. Und er verlässt sich auf sich selbst, das heißt auf überraschende Erfahrungen, die dazu einladen, Anfang, Ende und Verlauf des Prozesses als Variablen ihrer selbst zu betrachten.“ (Baecker 2009)


Auch Herbert Simon justiert im Jahre 1946 in einem Artikel über „Proverbs of Administration“ die Funktion und die Grundsätze des Managements neu und fordert dazu auf, widersprüchliche Strategien und Ausrichtungen vereinbar zu gestalten. „Für fast jedes Prinzip lässt sich ein genau entgegengesetztes Prinzip finden, das genauso plausibel und akzeptabel ist. Auch wenn die beiden Prinzipien zu exakt entgegengesetzten organisatorischen Empfehlungen führen, gibt es in der Theorie keinen Anhaltspunkt dafür, welche diejenige ist, die man anwenden sollte“ (Simon 1946). Simons Modell des eingeschränkt rationalen Verhaltens ist damit ein weiterer zentraler Wendepunkt in der Managementlehre.

Ähnlich argumentiert auch Karl Weick in „The Social Psychology of Organizing“ (1985). Weick fordert das Management zu einem „Complicate yourself!“ und einem Bruch mit den teleologischen Managementtheorien auf. Die Teleologie, griechisch telos (Ziel, Zweck), behauptet, dass es mithin so etwas wie Absicht und Planung in der Natur oder später auch in Organisationen gebe. Weick hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Organisationstheorie in theoretisches und in empirisches Neuland zu führen. Seine Hauptthese verkehrte die vertraute Vorstellung, dass der Prozess des Organisierens zielorientiert verläuft, in ihr Gegenteil. Am Anfang steht für Weick nicht das Ziel, der Zweck und die Planung, sondern vielmehr die Tat („action“) bzw. die Gestaltung („enactment“). Gerade der Prozess der Gestaltung befasst sich unmittelbar mit einer äußeren Umwelt. „Die Umwelt beugt sich buchstäblich den Gestaltungsakten der Leute, und ein großer Teil der Sinngebungstätigkeit besteht aus dem Bemühen, Außenwelt und Handlung zu trennen“  (ebd., S. 191). Karl Weick nennt ein Beispiel aus der Kommunikation unter Anwesenden: „Wenn ich mit einem Spankorb auf dem Rücken in eine fremde Versammlung hineinspaziere, die Leute grob zu mir sind und ich in Groll wieder weggehe, sind meine Handlungen verflochten mit denen der Leute, die sich dort aufhielten, als ich hineinmarschierte. Es bleibt der Selektionstätigkeit überlassen, zu entwirren, wieviel Feindseligkeit ich hervorgerufen habe und wieviel schon vorhanden war. Sind sie für den groben Empfang verantwortlich oder ich oder wir beide oder keiner? Beim Abschluss des Gestaltungsvorgangs ist dies nicht bekannt.“ (ebd.)   Folgen wir Weicks Gedankengang, was das für die Praxis heißt, erhalten wir eine erste Skizze, wie mit Druckers unauflöslichem Widerspruch umzugehen wäre: „1. Geraten Sie angesichts von Unordnung nicht in Panik! 2. Sie können niemals ein Ding auf einmal vollständig erledigen. 3. Chaotisches Handeln ist geordnetem Nichthandeln vorzuziehen. 4. Die wichtigsten Entscheidungen sind oft die am wenigsten sichtbaren. 5. Es gibt keine Lösung.“ (ebd., S. 106)


James March wiederum, der die Begriffe „Garbage Can Model of Organizing“ (March/Cohen/Olsen 1972) oder „Technology of Foolishness“ prägte (March/Olsen 1987), hat sich mit der Frage beschäftigt, woher die Entscheidungspräferenzen in Organisationen kommen und über die unvermeidbaren Mehrdeutigkeiten allen Handelns in Organisationen nachgedacht. Mythen, Fassaden von Rationalität oder Pläne sind für March nur dazu da, nachträglich für Legitimation zu sorgen. Woran orientiert man sich, wenn man von kausalen und nützlichen Erwägungen auf etwas anderes umstellt? Führung hat dann mit Sinnsuche zu tun und muss umstellen auf Vieldeutigkeit.

In „Managing the Nonprofit Organization“ (New York 1990) machte Peter Drucker dann auf eine weitere Rolle von Organisation mit der Entwicklung der Urbanisierung der Gesellschaft aufmerksam. Die Herausforderung bestehe darin, ihren Mitgliedern „to give community and a common purpose“. Zwar bezog sich das im Kontext dieses Buchs auf gemeinnützige Organisation, aber heute trifft dies für die überwiegende Mehrheit der Menschen auch auf alle anderen Organisationen zu. Gerade die Eigenschaften und Herausforderungen von Non-Profit-Organisation eignen sich für das Verständnis des Managements in der Purpose-Wirtschaft. Wenn, wie bei den Pfadfinderinnen, auf tausend Freiwillige weniger als eine Angestellte kommt, zeichnet sich ein Bild einer nächsten Zivilgesellschaft ab, „tomorrow’s society of citizens through the nonprofit service institution. And in that society everybody is a leader, everybody is responsible, everybody acts. Everybody focuses himself or herself. Everybody raises the vision, the competence, and the performance of his or her organization. Therefore, mission and leadership are not just things to read about, to listen to.” (ebd., S. 49)


Im Atlantic Monthly veröffentlichte Peter Drucker 1995 schließlich den Text „Can democracies win the peace“. Den Artikel verfasste Drucker aus Sorge um den Bestand der Institutionen, ohne die aus seiner Sicht eine „erträgliche Gesellschaft“ nicht realisierbar sei. Eine funktionierende Zivilgesellschaft gründe auf dem Rechtsstaat sowie auf dem Fundament der universellen Menschenrechte. „Die Neoliberalen sagen zu Recht,“ so Drucker, „dass ohne Marktwirtschaft eine moderne Ökonomie nicht existenzfähig ist.“ Umgekehrt jedoch bestehe die gleiche Abhängigkeit der Marktwirtschaft von einer intakten Zivilgesellschaft: „Without it, it is impotent.“ Die Purpose-Wirtschaft als Teil der liberalen Moderne geht also über die klassische Selbstbeschreibung der Ökonomie hinaus, Gewinne als Selbstzweck reichen nicht mehr. (Drucker 1995)

In „Managing in the Next Society“ (2002) arbeitete Drucker nicht zuletzt die gesellschaftliche Legitimität und Vorbildrolle für die politische Kultur des demokratischen Rechtsstaates als weitere Aufgaben des Managerberufs einer wie er sie nannte, nächsten Gesellschaft, heraus. „In the next society, the biggest challenge for the large company especially for the multinational may be its social legitimacy.” … “Managers will increasingly have to learn that in turbulent times they have to be leaders and integrators in a pluralist society. The manager in other words will have to learn to create the ‘issues’ to identify both the social concern and the solution to it.”


Follett, Drucker, Simon, Weick, March – wohin führen ihre Ausgangspunkte? Heißt Management, das Neue anzukündigen und zur Wiederholung aufzufordern? Heißt Management, dass in der nächsten Organisation alle Mitglieder führen? Heißt Managen, für jedes Prinzip ein Gegenprinzip im Auge zu behalten? Heißt Managen, das Primat des Handelns zu verinnerlichen und Pläne nur für die nachträgliche Legitimation zu nutzen? Heißt Management, dass nicht mehr nur wenige, sondern alle auch Verantwortung übernehmen? Stellen Organisationen und ihr Management nun von Gewinnen als Selbstzweck mehr auf gesellschaftliche Legitimität um? Und nicht zuletzt, sind Führungskräfte nicht mehr nur aufmerksame Beobachtende, sondern maßgeblich Gestaltende der liberalen Moderne und ihres Rechtsstaats? Mit welchen Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Leitbildern haben Akteure der Purpose-Wirtschaft es heute also zu tun? Auf welche Kontroversen in der gesellschaftlichen Debatte und möglichen Alternativen zum bisherigen wirtschaftlichen Handeln müssen sich Organisationen zukünftig einstellen? Wie kann das Management angesichts unauflöslicher Widersprüche angemessene Entscheidungen treffen?


Leserinnen und Leser erwarten einfache Antworten auf solche Fragen. Tom Peters, der Schüler von Peter Drucker und Karl Weick, dessen Managementbuch „Auf der Suche nach Spitzenleistungen“ (New York, 1982, mit Robert Waterman) zum ersten Mal in den USA die Auflage von einer Million Exemplaren überschritt, wurde in den tausenden nachfolgenden Workshops, die er in den 1980er Jahren mit Führungskräften durchführte, immer wieder mit einer Frage konfrontiert: „Tom, wir verstehen ja, was Sie meinen. Aber sagen Sie uns jetzt doch bitte, was wir tun sollen!“ (vgl. Peters 1987). Die „begrenzte Rationalität“ (Herbert Simon) wird zum bestimmenden Phänomen unternehmerischen Handelns. Viele Abstraktionen der Managementtheorie helfen auf den ersten Blick nicht weiter, aber – wie ein anderer (Hobby-) Vordenker und hauptberuflicher Manager, Chester Barnard (1886-1961) es einmal beschrieb, er bewege sich als Praktiker in „Wolken von Ereignissen“ und als theoriebegeisterter Abstractor in „Wolken von Abstraktionen“ (Barnard 1938). Als ihm einmal der eher praxisorientierte Harvard-Professor M. Copeland die Weltfremdheit seiner Managementkonzepte vorwarf, rechtfertigte sich Barnard, indem er zwei Redeweisen über Management unterschied: abstrakt-theoretisch und allgemeinverständlich-praktisch. Er selber benötige für sein Handeln beide Stile und könne, was er praktisch mache, nur theoretisch verstehen. Für Barnard hieß Managen, intuitiv zu handeln, ohne sagen zu können, von welchem Wissen es geleitet sei. Organisationstheorie interessiere ihn deshalb, weil sie handlungsleitendes Wissen explizieren könne und vielleicht erklären könne, warum Praktiker sich diesem Wissen gar nicht bewusst sein können und häufig anderen Modellen folgten, als sie es zu tun glaubten (Barnard 1939).


Mit diesem Buch soll der Leserin und dem Leser eine Handreichung, ein Vademecum zur Verfügung gestellt werden, das sich dem Begriff Purpose und der damit verbundenen Verschiebung in Wirtschaft, Management und Gesellschaft annähert. Das Vademecum will dazu beitragen, sich mit dem Unerwartbaren und Widersprüchlichen der Purpose-Wirtschaft und einem nächsten Management, das bereits neue Handlungsmuster entwickelt, auseinanderzusetzen. Mit den Ausgangspunkten von Follett, Drucker, Simon, March oder Weick sind die Meilensteine gesetzt. Managen heißt, Muster, Purpose und Prozesse einerseits zu erhalten, andererseits sie dosiert aufzulösen und damit zukunftsfähig zu bleiben. Für das Management in Organisationen ist heute nichts wichtiger als das Zuhören und das Reden. Wer heute managt, kommuniziert. Wer den Prozess des Organisierens zukunftsfähig machen will, setzt auf die Beobachtung zweiter Ordnung. Oder wie es Niklas Luhmann einmal so schön ausgedrückt hat, „Führer kann nur jemand sein, der beeinflussen kann, wie er beobachtet wird.“ (Luhmann 2002)


Im Englischen heißt es so schön: “We didn't do it on purpose - it was an accident.” In der Wirtschaft erinnert dieser Satz an ein Start-up, das in der Gründungsphase mit Zufällen operiert und seinen Weg noch finden muss. Ist die Einmalerfindung Organisation erst einmal etabliert, kann sie sich nur noch selten auf Zufälle und Inkonsistenzen berufen. Ihr nachhaltiges Geschäftsmodell und ihre gesellschaftliche Legitimität muss entwickelt und erhalten werden. In der Außenkommunikation betont der Purpose das Selbstbild und zielt auf Reputation. Purpose wird zu einer Story, einem Narrativ, zu einem sozialen Prozess des Sensemaking (Weick 1995). „All our efforts were to no purpose“ wäre dann zukünftig ein Satz, der den meisten Organisationen in offenen Märkten wohl Schaden zufügen würde.

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