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Die Purpose-Wirtschaft

Erscheint in:

Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft. Management als Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl. Ein Vademecum


Was verstehen wir hier unter dem Begriff Purpose? Organisationstheoretisch gesprochen sind Unternehmen Einmalerfindungen, die die Chance nutzen, aus Marktgelegenheiten oder während gesellschaftlicher Evolutionsprozesse relevante Angebote zu schaffen. Wenn Organisationen Kunden, Klientinnen oder Nachfrage erschaffen und sie nach und nach ihre spezifischen Strukturen entwickeln, entsteht daraus ein autopoietisches System, also ein System, das sich selbst am Leben erhält. Und es erhält sich, indem es ununterbrochen agiert und beobachtet, ob die getroffenen Entscheidungen im Umfeld auf Resonanz stoßen. Die Organisation entwickelt Beobachtungsmuster und versucht, auf Diskrepanzen zu den selbst definierten Resultaten zu reagieren. Sie sucht nach Produkten und Dienstleistungen, die anschlussfähig sind und die zu ihr passen. Ihr Erkenntnisprozess ist damit im Sinne Platons ein Schattenbild realer Phänomene (Platon, Politeia), eine innere Abbildung der Umwelt. Organisationen sind selbstbezüglich oder, mit einem Begriff von Niklas Luhmann, selbstreferentielle Systeme (Luhmann 1986). Hinter den alltäglichen Herausforderungen des Kommunizierens, Entscheidens, Handelns und den Widersprüchen zwischen diesen drei Dimensionen liegt ein tieferer Sinn von Organisationen. Die Fragen, die sich daraus ergeben, sind vielfältig. Wozu gibt es eine spezifische Organisation, dieses - soziologisch gesprochen - soziale System? Was ist der eigentliche gesellschaftliche Auftrag, der gesellschaftliche Daseinsgrund einer Organisation? An welchen übergeordneten Zielen orientiert sich der gesellschaftliche Diskurs und welche Relevanz hat dieser für die Organisation? Was könnte die gesellschaftliche Zweckbestimmung einer Organisation sein und welchen Nutzen stiftet sie? Mit welchem Zweck identifiziert sie sich? Welcher tiefere Sinn erhält sie am Leben? Was sind ihre inneren Werte und Ansprüche? Und ganz praktisch, wenn Unternehmen als soziale Systeme nicht mehr rein über den Gewinn gemanagt werden sollen, welche Widersprüche müssen sie zukünftig aushalten? Wie finden sie eine Balance zwischen Gewinn und Gemeinwohl? Welche Mittel sind gesellschaftlich legitimierbar? Und was heißt das dann für ihre Führungskräfte, wie entwickeln sie ihr Urteilsvermögen, wie entscheiden sie in einer Purpose-Wirtschaft? Bedeutet das in einer nächsten Gesellschaft also, neben den klassischen gewinnorientierten, den gemeinnützigen und den öffentlichen Organisationen eine vierte Form, die purpose-getriebenen Organisation vorzufinden? Werden Unternehmen auch zukünftig Gewinne anstreben? Ja, so ist das Wirtschaftssystem codiert. Wer nicht bezahlen kann, fliegt raus. Selbst gemeinnützige Organisationen streben nach stabilen Ressourcen und Rücklagen oder Gewinnen, wenn auch meist mit niedrigeren Margen. Das gilt auch für Familienunternehmen oder Stiftungsunternehmen, in denen der Gewinn nicht immer die höchste Priorität hat. Denn Gewinne sind die Kosten des Überlebens (vgl. Peter Drucker, Managing in the next Society, Oxford 2002, S. 149f). Wenn es für viele Bürger in offenen Gesellschaften fraglich wird, ob der heutige Kapitalismus noch breite Wohlstandsgewinne ermöglicht, unterliegen Gewinne ebenso wie die gesamte Organisation einer gesteigerten Legitimierung. Das Gemeinwohl und das gesellschaftliche Reputationskapital können nicht mehr ausgeklammert werden.Gewinnorientierung als alleiniger Leitstern von Unternehmen bleibt vereinzelt weiter funktional. Unternehmen mit vorwiegend Kunden, die sich allein am Preis orientieren, werden bis auf weiteres keine Notwendigkeit sehen, sich an der Purpose-Debatte zu beteiligen, zumindest solange keine strengeren Leitlinien und Gesetze eingeführt werden. 

Wird der Gewinn oder der Purpose in der nächsten Gesellschaft zum Ausgangspunkt des Wirtschaftens? Investoren legen im Kapitalismus ihr Geld weiterhin in skalierbare, innovative Gründungen,  gewinnträchtige Geschäftsmodelle oder beim Shareholder-Modell zum Beispiel als Aktienrückkauf an (um im letzten Fall den Gewinn pro Aktie auch ohne Innovationen zu steigern, solange die Wirtschaftspolitik dies toleriert). Organisationen als soziale Systeme, die auf langfristiges Überleben ausgerichtet sind, orientieren sich mehrdimensional (siehe Henokiens 2024). Das Unternehmen kann sich dann selbst gehören (zum Beispiel als Stiftung), einer Familie gehören oder sich zu gesellschaftlicher Verantwortung verpflichten wie die schon erwähnten Unternehmen in Verantwortungseigentum. Die Gewinn-Variante und die Purpose-Varianten existieren in der Wirtschaft einer nächsten Gesellschaft weiterhin. Sie befinden sich in einem paradoxen Spiel, das die andere Seite der Medaille nicht vollkommen ausklammern kann. So entstehen Mischformen, in denen mal der Purpose und mal der Gewinn im Vordergrund stehen - im Gründungsmodus eines Unternehmens, im Wachstumsmodus, im Konsolidierungsmodus oder im Krisenmodus. Unternehmen öffnen sich, um ihre Umwelt-Komplexität bewältigen zu können. Sie geraten dann bisweilen in Sinnkrisen, drohen ihre strategische Orientierung zu verlieren und müssen lernen, den Sinn von morgen mit provisorischen Strukturen neu zu justieren. Unternehmen sind aber gut beraten, zu beobachten, in welche Richtung sich liberale und offene Gesellschaften entwickeln und das Management dann entscheidet, mit wem man möglicherweise bald keine Geschäfte mehr machen kann oder will. Die zunehmende Vielfalt der offenen Gesellschaft ist ihre Stärke, auch weil ihre Organisationen anpassungsfähig bleiben. Die liberale Moderne schafft in einer Purpose-Wirtschaft laufend neue Gelegenheiten, aus gesellschaftlichen Problemen neue Lösungen und damit Geschäftsmodelle zu schaffen. Wäre es für Unternehmen in einer Purpose-Wirtschaft noch möglich, komplett auf Purpose zu verzichten? Im Economist wurde diese Frage schon gestellt, „is it even possible to have purposelessness as a goal?“ (14.05.2022). Auch das bleibt noch offen. Viele Businessmodelle, die unter dem zivilgesellschaftlichen Radar operieren, werden auch bis auf Weiteres erfolgreich sein, auch wenn sie nicht vom Purpose getrieben sind. Alle Unternehmen stehen aber an der Schwelle zu einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, an dem Purpose zum Hoffnungstreiber werden kann oder auch nicht. Als Begriff bleibt Purpose verschwommen, vielfach eine oberflächliche Managementmode, ein Schlagwort, das, sprachtheoretisch gesprochen, gewisse Potenziale hat, das Beobachten und Handeln von Stakeholdern beeinflussen zu können. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, sagt Ludwig Wittgenstein.

Die Purpose-Wirtschaft also in zwei Worten? Mit der Perspektive des gesellschaftlichen Gemeinwohls und des ökonomischen Überlebens, die Fragen nach dem Wozu und nach dem Warum.

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