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Die Purpose-Wirtschaft

Erscheint in:

Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft. Ein Vademecum (in Vorbereitung, 2022)


Wozu Kapitalismus? Die Wirtschaft ist mit ihrem Medium Geld und ihrer Codierung zahlen/nicht-zahlen eine Einmalerfindung (Niklas Luhmann 2000). Der Kapitalismus gibt eine Antwort auf das soziale Zusammenleben der Menschen und gewährleistet, dass im historischen Wandel Entscheidungen in Organisationen selektiert und so variiert werden, dass Anschlussgeschäfte möglich werden. Oder mit einem anderen Akzent formuliert, „Wirtschaft schafft die Knappheit, die sie bewältigt“ (Dirk Baecker 2020).


Wie entwickelt sich die Wirtschaft? In der nächsten Gesellschaft (Peter Drucker 2002) differenziert sich die Wirtschaft weiter aus. Eine Purpose-Wirtschaft zeichnet sich ab, die neben einer klassischen, an Zahlungen und Gewinnen orientierten Wirtschaft existiert. Brauchen die Wirtschaft eine Moral? Nein, mit Moral beschäftigen sich Religions- und Sittengelehrte, die die Taten von Individuen zwischen Determinismus und freien Willen ausloten.


Braucht die Wirtschaft eine Ethik? Nicht im philosophischen Sinne. Wirtschaftsethik, was soll das sein? Dass Menschen bei ihrem Handeln und ihren Entscheidungen ethisch bewertet werden, hat Tradition. Menschliches Handeln ist tugendhaft, pflichtbewusst, nutzenorientiert, ein Fall für die Psychiatrie oder was auch immer. Aber Organisationen existieren weiterhin im Medium des Geldes und müssen letztlich immer auf Zahlungsfähigkeit achten. Haben sich Organisationen finanzielle Spielräume erwirtschaftet, wird sich das Management (also die handelenden Personen mit ihren Grundwerten) in einer sich wandelnden, nächsten Gesellschaft an einer Minimalethik wie „Schade niemand wissentlich“ (Hippokrates) orientieren. Diese Minimalethik hat es allerdings in sich. Was heißt, „schade niemand“ im Anthropozän? Der Mensch ist zwar Teil der Natur, die sich selbst macht. Wenn der Mensch aber weiterhin seine technischen und ökonomischen Logiken nicht mehr mit den Fragen verknüpft, „wo wollen wir eigentlich hin?“ oder „schadet unsere organisatorische Entscheidung niemand?“ führen die weiteren Entwicklungen im Anthropozän und in der liberalen Moderne zu Kipppunkten, an denen es kaum Zurück mehr gibt. „Schade niemand wissentlich“ heißt dann, die eigenen Geschäftsmodelle radikal und frühzeitig in Frage zu stellen und Verantwortung für Gemeinwohlfragen zu übernehmen. Immer mehr (fossile) Energie verkaufen und deren Knappheit ausnutzen? Durch falschen Strafvollzug und falsche Gesetze mehr Folgekriminalität erzeugen? Im Investmentbanking minderwertige Finanzprodukte zu entwickeln und später im richtigen Moment den Rest schnell verkaufen und schon gegen sie zu wetten? Aus digitalem Krypto-Geld noch mehr Geld zu generieren? Als Beratungsagentur Daten von nicht kontrollierten Datenplattformen zu kaufen, sie auszuwerten und sie an antidemokratische Parteien zu verkaufen? Das waren und sind teilweise noch legale Geschäftspraktiken, die allerdings nicht mehr legitimierbar sind, denn sie schaden jemand. Und „jemand“ heißt hier, einer Gesellschaft, deren Grundlagen damit in Frage gestellt werden und erodieren können.


Braucht die Wirtschaft strengere gesellschaftliche und politische Leitregeln? Ja. Eine Purpose-Wirtschaft braucht Anreize für legitime Geschäftsmodelle. Viele Teilsysteme der Gesellschaft sind falsch gepolt: (fossile) Energie verkaufen statt einsparen, landwirtschaftliche Erträge durch Reduktion der Biodiversität zu steigern statt die Grundlagen des Ökosystems zu erhalten, mit Krankenbehandlungen Gewinne zu machen statt präventiv zu heilen oder Pflegebedürftige in die Betten statt aus den Betten heraus zu pflegen. Die Geschäftsmodelle vieler Organisationen sind überholt und gefährden das Gemeinwohl. Eine Purpose-Wirtschaft benötigt bessere und sich laufend erneuernde gesellschaftliche Leitlinien. Radikal neue gemeinwohlorientierte Geschäftsmodelle sollten sich „rechnen“ können und nicht alte, noch gewinnträchtige Geschäftsmodelle geschützt werden. Die Wirtschaft kann zu planetaren, technischen, sozialen oder politischen Problemen profitable Geschäftsmodelle entwickeln, wenn man das Neue zulässt und das Alte aufhört zu schützen. Geschäftsmodelle, die Probleme schaffen, sollte der Staat, die Politik, die Mitglieder dieser Organisationen und die aufgeben und die zivilgesellschaftlichen Akteure beobachten und versuchen, sie zu verstehen. Wenn Spielräume für bahnbrechende Innovationen da sind, dann wird es Unternehmen und Start-ups geben, die nach Lösungen für Probleme suchen. Wenn alte Geschäftsmodelle aber durch populistische Maßnahmen geschützt werden, dann werden weiterhin in Routine-Organisationen für veraltete Lösungen nun zwanghaft nach Problemen gesucht, anstatt sie von radikal neuen Spielern einem fairen Wettbewerb auszusetzen.


Werden Unternehmen immer Gewinne anstreben? Ja, so ist das Wirtschaftssystem codiert. Wer nicht bezahlen kann, fliegt raus. Selbst gemeinnützige Organisationen streben nach Gewinnen und Rücklagen, wenn auch meist mit niedrigeren Margen. Gewinne sind die Kosten des Überlebens (Drucker …). Aber Gewinne unterliegen ebenso wie die gesamte Organisation einer Legitimierung, das Gemeinwohl kann nicht mehr ausgeklammert werden.


Brauchen Organisationen ein Management? Das hängt vom Kontext ab. Wenn es sich um Wissensorganisationen handelt (und welche Organisation ist das heute nicht), nimmt tendenziell das Nicht-Wissen zu, je höher man in der Hierarchie steht und gleichzeitig die Führungsspanne ab. In Wissensorganisationen werden sich dezentrale Teams selbst managen und wird gleichwohl fast immer ein Rest-Management für wenige Entscheidungen übrigbleiben. Eine Führungsspanne von bis zu 1:10.000 und mehr wird möglich, die durch neue und dezentral mitgestaltete Kommunikations- und Informationssysteme ergänzt wird, die allen Mitgliedern zugänglich sind und einen Wissenstransfer gewährleisten kann. Führung wird zu einer Aufgabe, die auf mehr Schultern verteilt wird, wobei die dann häufig auftretenden Teamkonflikte mit professionellem Coaching fruchtbar gemacht werden.


Welche Strukturen brauchen Organisationen in der nächsten Gesellschaft? Sie benötigen eher provisorische oder heterarchische Strukturen, denn schon morgen kann sich in Wissensgesellschaften und Wissensorganisationen alles ändern. Krisen werden zum Dauerzustand einer offenen Gesellschaft. Paläste und steile Organigramme sind vergangene, zu starre Kategorisierungen für die Prozesse des Organisierens. Die nächsten Strukturen ähneln Zelten, die man untereinander vernetzt. Sie können bei Bedarf abgebaut und woanders angesiedelt werden. Netzwerkstrukturen, die auch die Grenzen der Organisation überschreiten, werden relevanter.


Wird der Gewinn oder der Purpose in der nächsten Gesellschaft der Ausgangspunkt des Wirtschaftens? Investoren legen im Kapitalismus ihr Geld weiterhin in skalierbare Gründungen und gewinnträchtige Geschäftsmodelle an. Organisationen als soziale Systeme, die auf langfristiges Überleben ausgerichtet sind (wie zum Beispiel die Henokiens, die schon mindestens zweihundert Jahre existieren - https://www.henokiens.com/) achten von Beginn an auf einen Purpose, einen Sinn und Zweck, aus dem sich ein „sensemaking“ – Prozess entwickelt und Skalierbarkeit nicht die höchste Priorität hat. Das Unternehmen kann sich dann selbst gehören (zum Beispiel als Stiftung), einer Familie gehören oder sich zu gesellschaftlicher Verantwortung verpflichten. Die Gewinn-Variante und die Purpose-Variante existieren in einer nächsten Gesellschaft weiterhin. Sie befinden sich beide in einem paradoxen Spiel, das die andere Seite ihrer Medaille nicht ausklammern kann. So entstehen Mischformen, in denen mal der Purpose und mal der Gewinn im Vordergrund stehen. Unternehmen öffnen sich, um ihre Umwelt-Komplexität bewältigen zu können. Sie verlieren bisweilen ihr Zentrum und lernen mit provisorischen Strukturen den Sinn von morgen neu zu justieren. Unternehmen sind aber gut beraten, zu beobachten, wo liberale und offene Gesellschaften hinwollen. Die zunehmende Vielfalt der offenen Gesellschaft ist ihre Stärke. Die liberale Moderne schafft laufend neue Gelegenheiten, aus gesellschaftlichen Problemen neue Lösungen und damit Geschäftsmodelle zu schaffen.


Wozu dann Sinnstiftung in Unternehmen? Wer feststellt, dass etwas „keinen Sinn mehr macht“, drückt damit aus, dass die bisherigen Erfahrungen und Handlungsmuster versagen. Sinnstiftung ist ein Phänomen, das sich bei jedem sozialen Kommunikationsprozess vollzieht. Gerade Organisationen sind von solchen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern geprägt. Sie helfen, die komplexe Umwelt zu reduzieren und mit bewährten Routinen auf sie zu reagieren. Wenn aber das Umfeld nicht mehr mit der inneren Organisationslogik in Übereinstimmung zu bringen ist, dann ist Sinn nicht mehr festgelegt. Man lässt sich dann auf einen Prozess ein, in dem Sinn gefunden und Sinn gemacht wird, aus dem sich neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster herauskristallisieren.


Welche Marken profitieren durch die Anpassung an die Mechanismen der Purpose-Wirtschaft und welche geraten in Bedrängnis durch offenen Widerstand gegen sie oder durch Verschleierung mit Greenwashing? Ob Unternehmen davon profitieren, auf „woke“ Sprache umzustellen, vertrauliche (von Social Media Plattformen stammenden) Kundendaten nicht zu nutzen oder radikal klimaneutral zu produzieren (auch auf die Gefahr hin, dass man daraus resultierende Verluste nicht durchhält), muss derzeit noch als unvorhersehbar betrachtet werden. Lange ließ man Unternehmen die Möglichkeit, die externen Kosten, insbesondere ihre Folgekosten für die Bedrohungen der Natur und des Planeten an die Gesellschaft auszugliedern. Viele Pioniere des Nachhaltigen, Sozialen und des Demokratieerhalts sind nicht über eine auch längere Gründungsphase hinausgekommen. Wer diese ökonomische Wette gewinnt, ist noch nicht ausgemacht. Wetten darauf können, zum Beispiel auf dem Börsenparkett, abgeschlossen werden.



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