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Die Prophetin des modernen Managements - Mary Parker Follett

Erscheint in

Winfried Weber: Die Purpose-Wirtschaft. Ein Vademecum. (2022)



„Leaders and followers are both following the invisible leader – the common purpose.” (Freedom and Co-ordination, 1949, p.55)








Falls man mal zum Stichwort „Mutter des Managements“ recherchiert, wird man auf den deutschsprachigen Websites nichts finden. Zum Stichwort „Vater des Managements“ oder „Vater des modernen Managements“ hingegen gibt es unzählige Treffer, insbesondere zu Peter Drucker. Drucker wiederum oder auch ein anderer Vordenker des Managements, Warren Bennis, weisen beim Quellcode moderner Ansätze auf eine Vordenkerin hin, Mary Parker Follett (1868 - 1933). Ihr gebühre die Ehre, die bahnbrechenden Innovationen zum Management erstmals in die Welt gebracht zu haben. Die Vordenkerin war aber schon bald nach ihrem Tod (1933) in Vergessenheit geraten.


Dazu eine Anekdote - der frühere Direktor des Genfer International Management Institute, Lyndall Urwick, wies Drucker 1951 darauf hin, dass seine Texte für die American Management Assosiation sehr denen von Mary Parker Follett ähnelten. Drucker fragte ihn daraufhin, „Mary who?“ Drucker nannte sie viele Jahre später im Vorwort einer Anthologie „the prophet of management“ (in: Pauline Graham, Mary P. Follett. Prophet of Management, Boston, 1995, p.1). Bennis bezeichnet sie als “swashbuckling advance scout of management thinking” und fasst ihren Einfluss so zusammen, "just about everything written today about leadership and organizations comes from Mary Parker Follett's writings and lectures." (in: Graham, 1995, 178). Henry Mintzberg (1995) deutet ihr Werk auf diese Weise, „wir sind immer noch hypnotisiert von der Idee der Hierarchie nach Fayol. Und sind allzu oft blind für die Einsicht der gleichrangigen Zusammenarbeit, dieses wunderbare Konzept der ‘kollektiven Verantwortung‘ nach Mary Follett.” Mary Parker Follett als eine abenteuerliche Pfadfinderin im organisationalen Gestrüpp also, deren Verdienste für das moderne Management in Vergessenheit geraten sind, übrigens wie so oft in der Managementtheorie und -praxis, in der selten auf Primärquellen originärer Autorinnen und Autoren hingewiesen wird oder man sie nicht mal kennt.


Dabei fällt gleich eine bemerkenswerte Parallele zwischen Mary Parker Follett und Peter Drucker auf. Beide waren zunächst Demokratietheoretiker und publizierten vorwiegend Texte zu Fragen der Weiterentwicklung der liberalen Demokratie. Beide gründen ihre späteren Bücher und ihr Denken über Organisation und Führung damit nicht auf betriebswirtschaftlichen sondern auf sozial- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen (Drucker spricht vom „management as a liberal art“) und Follett auch auf praktischen Erfahrungen zum sozialen Zusammenhalt und sozialen Innovationen. Bei beiden Biographien, erst im Alter von über vierzig Jahren, sollten Managementthemen, bei der Vordenkerin und dem Vordenker, zu einem späten Forschungsschwerpunkt werden, deren persönliche Leistung und Tragweite für Demokratie- und Managemententwicklung auch heute noch kaum gesehen und verstanden werden.


In Folletts damals viel beachteten Büchern “The Speaker of the House of Representatives“ (1896) und „The New State - Group Organization. The solution of Popular Government” (1918) plädierte sie dafür, dass Demokratie gelernt werden müsse. ”Sooner or later every one in a democracy must ask himself, what am I worth to society?” (Follett, 1918:368). Ihre Fragen drehten sich um die neuen Herausforderungen für die Politik (u.a. als Beraterin von Theodore Roosevelt), um Gruppendynamik, Machtspiele, das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, die Bewahrung von Pluralität und Vielfalt. Ihre Zukunftsentwürfe für eine praktische Politik zielten auf Partizipation, Dezentralität, Machtbalance, Interdependenzen, zivilgesellschaftliches „self-government“ und die wichtige Rolle des lokalen Gemeinwesens. „The study of democracy has been based largely on the study of institutions; it should be based on the study of how men behave together.” (Follett, 1918, 19) und an anderer Stelle, “Moreover in society every individual may be a complete expression of the whole … When each part is itself potentially the whole, when the whole can live completely in every member, then we have a true society” (Follett, 1918, 77)

Auch Drucker wurde zunächst bekannt durch seine Totalitarismusforschung. Dessen Buch "The End of Economic Man. The Origin of Totalitarianism" (1939), im amerikanischen Exil geschrieben, gilt in Großbritannien und Japan als Klassiker. Drucker formulierte als einer der Ersten eine Theorie des Totalitarismus und analysierte die ökonomischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen totalitärer Systeme im europäischen Kontext. Sein Buch wurde zum Beispiel von Winston Churchill lobend rezensiert (in: Times Literary Supplement, 1939, siehe https://winstonchurchill.org/resources/in-the-media/churchill-in-the-news/churchill-and-drucker-perfect-together/ ) Drucker arbeitet heraus, dass Faschismus "reine Negation" verkörpere, die auf "nackter Autorität" ohne jede Legitimität basiere. Die europäische Krise erklärt er mit dem Zerfall des liberalen Versprechens und dem individualisierten Individuum, das anfällig werde für Sündenbocktheorien und Massensuggestion. Wie auch bei Parker Follett waren es Zufälle, die Drucker dann ab Mitte der 1940er Jahre zu den sozialwissenschaftlichen Grundlagen des Managements führen sollten.

Es ist verblüffend, dass Follett und Drucker beide ihre gesellschaftlichen und politischen Demokratieanalysen erweiterten, indem sie sie auf das soziale System der Organisation und die Funktion des Managements übertrugen.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Managementinnovationen von Mary Parker Follett (geb. 1868) ist ihr Lebenslauf. Schon als Mädchen musste sie früh familiäre Verantwortung übernehmen. Ihr Vater starb in ihrer Jugendzeit, ihre Mutter war körperlich behindert. Ausgestattet mit der Selbstdisziplin ihrer kindlichen Wurzeln im Quäkertum schrieb sie sich 1892 in die Society for the Collegiate Instruction of Women in Cambridge/Massachusetts ein und studierte Staatslehre, Jura, Philosophie und Wirtschaft. Nach ihren umfangreichen Studien zum Regierungshandeln und ihrer Promotion summa cum laude am Ratcliffe College (1898) setzte sie sich von 1900 bis 1915 als Social Entrepreneur und „voluntary social worker“ für Benachteiligte in Boston ein. Sie gründete mehrere soziale Zentren, unter anderem um junge Einwanderer in Bostoner Vororten zu integrieren. 1911 war sie bei der Gründung des East Boston High School Social Center beteiligt, einer weiterführenden Schule, die Abendkurse für sozial Benachteiligte anbot. Als sie dann Mitte der 1910er Jahre mit Industriemanagern (wie Henry S. Dennison oder später B. Seebohm Rowntree) in Kontakt kann, sollte sich ihr Wirken und die Resonanz auf ihre sozialen Innovationen auf wichtige Entscheidungsträger der Wirtschaft ausdehnen. Aus einer Sozialarbeiterin und Managerin des Bostoner Sozialraums sollte sich die Prophetin des modernen Managements und Politikberaterin entwickeln. Mit ihrer Theorie menschlicher Interaktion wird sie mit ihren wegweisenden Führungsmodellen ein Anwendungsgebiet entdeckt haben, das im 20. Jahrhundert, eine Ära des Aufstiegs von Organisationen und ihrem Management als soziale Innovationen einer liberalen Gesellschaft, nicht hoch genug einzuschätzen ist.

Der Journalist Mark Gimein fasste in Fortune (13.11.2000) einmal die Breitenwirkung von Managementphilosophen wie Tom Peters (der als erster US-Wirtschaftsbestseller-Autor im Economist als einer der „Ur-Managementgurus“ bezeichnet wurde) auf das Management zusammen: „now that we live in a Tom Peters World“. Schüler von Schülern von Prophetinnen werden in Vergessenheit geraten. Die große Vordenkerin Mary Parker Follett wird aber als diejenige in die Geschichte der Managementprofession eingehen, die am Quellcode des modernen Managements mitgewirkt hat. Gleichwohl blieben ihre Erkenntnisse außerhalb eines kleinen Netzwerks von Experten bis heute unbekannt, vermutlich weil ihre Ansätze im Bereich der Humanbeziehungen und nicht im Paradigma der rationalistischen Betriebsführung eines Frederick Taylors oder Henry Fayol verortet waren und wie immer auch in den vergangenen Jahrhunderten, weil sie als Frau in einer Männerdomäne kaum ernst genommen wurde.


Einige zentrale Begriffe und Thesen entwickelte Follett aus der Beobachtung von hierarchischen Führungsprozessen. Ein klassischer Führungsansatz in hierarchischen Strukturen schwäche die Strukturen einer Organisation. Macht sei neu zu definieren. Moderne Führung basiere nicht mehr auf „power over“, sondern auf „power with“. Wer Macht verstehe als „Macht-über“, um eigene Ziele durchzusetzen, handle (selbst-) zerstörerisch. Es brauche dann immer mehr noch mehr Einsatz von Macht, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Im Management gehe es immer und in erster Linie um eine Zusammenarbeit mit Anderen. Im Zentrum stehe interaktive Einflussnahme und um Gruppenprozesse mit potenzieller Selbstorganisation statt einer Stabilisierung hierarchischer Strukturen. „Das Studium der Gemeinschaft als ein Prozess löst Hierarchie auf, denn es lässt uns eher das Qualitative als das Quantitative betonen.“ (Follett 1919)


Folletts Kritik zielte auf die vorherrschende autokratische Führung. Sie hob die Bedeutung der Geführten hervor, die viele subtile Mittel besaßen, sich Befehlen und willkürlichen Anordnungen zu widersetzen. Für Follett verfolgen Geführte und Führende ein gemeinsames Ziel Mitarbeitende müssen bei Entscheidungen einbezogen werden. Und Mitarbeitende wollen von sich aus gute Arbeit leisten. Intrinsische Motivation sei der Normalfall und könne leicht zerstört werden. Wer autokratisch führe, riskiere die Abnahme des Verantwortungsgefühls der Mitarbeitenden. „Wenn also als willkürlich betrachtete Befehle die menschliche Initiative bricht, die Selbststeuerung entmutigt, den Selbstrespekt verhindert, wie können wir diese Desaster verhindern?“ (Graham, 1995, S. 131f) Nur über eine andere und bessere Ausbildung des Managements werde es möglich, bessere Ergebnisse zu erzielen und Veränderungen bisheriger Praktiken zu ermöglichen. Gerade bezüglich des Umgangs mit Macht, mit Anordnungen und Befehlen gelte es fast alles anders zu machen. Anordnungen seien zu de-personalisieren, Strafen seien abzuschaffen. Und falls es Anordnungen gebe, müssten sie immer begründet werden.


Ein weiterer zentraler Fokus ihres Führungsmodells war ihre Theorie zum Konfliktmanagement. Konflikte sind allgegenwärtig in allen Lebensbereichen („fact of life“). Konflikte seien anzuerkennen und man könne als Führungskraft, sie für die Organisation arbeiten lassen („make to work for us“). In Demokratie und Organisationen verkörperten Konflikte die „Differenz von Meinungen und Interessen“, und ohne Konflikte gebe es keinen Fortschritt. Lösungen für Konflikte wiederum dürften nicht von oben vorgeschrieben werden. Sie müssten in den Teams selbst gefunden werden. Forderungen der unterschiedlichen Organisationmitglieder müssten Interessen und Bedürfnisse anderer berücksichtigen. Und nicht zuletzt, Bedürfnisse müssten ausgesprochen, beachtet und respektiert werden.

Bahnbrechend war ebenfalls Folletts praktisches Modell von Konfliktlösungen. Die einfachste Möglichkeit zur Konfliktlösung stelle die „domination“, die Dominierung dar. Eine Seite gewinne gegen die andere, was langfristig selten erfolgreich wäre. Die zweite Variante bezeichnet sie als „compromise“. Kontroversen werden dann bei Kompromissen größtenteils beglichen. Jede Seite gebe ein bisschen auf, um Frieden herzustellen und erreiche eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Konfliktlösung. Das Problem: niemand bekomme, was eine Partie wirklich möchte, alle müssten etwas aufgeben. Die für Follett richtige Konfliktlösung war die „integration“, wobei hier der Fokus auf den Interessen statt den Positionen liege. Beide Seiten bekämen, was sie möchten. Alle Wünsche und Bedürfnisse würden im Wesentlichen erfüllt, niemand müsse etwas aufgeben.


Mary Parker Follett, als Avantgardistin bahnbrechender Thesen zum Umgang mit Macht, zum Wissensmanagement, zur sozialen Netzwerktheorie der Organisation, zur Rolle der Organisation in der liberalen Demokratie, zum Konfliktmanagement und das von ihr stammende "self-governing principle" haben heute Eingang in alle modernen Formen im Prozess des Organisierens gefunden. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Praxis, wie wir heute die Arbeitswelt organisieren, dass die die Ursprünge des modernen Managements maßgeblich auf das Wirken einer Bostoner Sozialwissenschaftlerin, Demokratieforscherin und sozialen Unternehmerin zurückgehen, die bis heute kaum jemand kennt.




Hier kann man die wichtigsten ihrer Texte nachlesen: Freedom and Coordination (Book, Collection of Lectures, 1949) Freedom%20and%20Coordination%20-%20Cleaner%20Version.doc

Dynamic Administration (Book, Collected Papers, 1940) Dynamic%20Admin.doc

The Teacher-Student Relation (Address, 1928) The%20Teacher-Student%20Relation.doc

Creative Experience (Book, 1924) Creative%20Experience.doc

Community is a Process (Article, 1919) Community%20is%20a%20Process.pdf

Haldane introduction to The New State (1923) Haldane%20Introduction.pdf

The New State (Book, 1918) The%20New%20State.doc

Speaker of the House of Representatives (Book, 1896) SpeakeroftheHouse.doc


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