(Auszug aus: Winfried Weber, Die Purpose-Wirtschaft, 2024 eBook zB. bei Amazon Kindle)
Zu einer der prägendsten beruflichen Erfahrungen des Autors zählte in den 1980er-Jahren sein erstes Projekt in einem Erwachsenenbildungsinstitut einer norddeutschen Großstadt, in dem es darum ging für Tausende von neu eingewanderten Bürgern, Bildungsangebote zu schaffen. Arbeitsmigranten aus den OECD-Ländern, Spätaus-siedler aus der Sowjetunion sowie Asylsuchende. Wichtigster Schritt bei allen Lernpro-zessen ist Augenhöhe, gerade auch in Lerngruppen mit hoher heterogener nationaler Zusammensetzung und heterogenen Bildungsvoraussetzungen, von Analphabetismus bis Hochschulabschluss, in jeweils einer Lerngruppe. Augenhöhe in Lernprozessen hängt auch stark von der Fähigkeit der Lehrenden ab, ihre Wahrnehmungsmuster zu reflektieren, nach besseren Kommunikationsformen zu suchen, rasch ein Wir-Gefühl in der Gruppe zu erzeugen und eurozentristische Sichtweisen abzulegen. Der Autor stieß dabei auf das Konzept der Scherzverwandtschaft des luxemburgischen Filmemachers Gordian Troeller, das für ihn ein Startpunkt und Schlüssel für gelingende Kommunikati-on in Gruppen von hoher Diversität wurde.
Die eurozentrische Sichtweise war auch für Troellers Filmprojekte lange Zeit bestim-mend. Einige Erlebnisse aber hätten sein Weltbild entscheidend verändert und ihm das Verhängnisvolle am europäischen Überlegenheitsgefühl bewusst gemacht.
Hier ein längerer Text von Troeller:
„Es geschah vor etwa 20 Jahren. Die schwarze Bevölkerung des Südsudan hatte sich gegen die Herrschaft des arabischen Nordens erhoben. Wir wollten einen Film bei den Rebellen drehen und mußten heimlich von Uganda in den Sudan geschleust werden. Sieben Männer und vier Frauen vom Stamm der Kakua erwarteten uns am Ufer des Flusses, der hier die Grenze bildet. Die Frau-en trugen nur Lendenschurze. Der Rest ihrer ‚Bekleidung’ bestand aus rituellen Narben. Wir muß-ten durch den Fluß schwimmen. Die Frauen nahmen Marie-Claude in ihre Mitte, die Männer schwammen neben mir. Es gab Komplikationen mit Treibholz und Krokodilen, und wir konnten nur mit größter Anstrengung ans andere Ufer gelangen. Dort umarmten wir uns. Eine rührende Szene, die nach Brüderschaft aussah. Anschließend wurde im Wald gegessen, aber da waren wir wieder getrennte Gruppen. Wir saßen auf einer Zeltbahn und unsere Begleiter hockten 20 Meter entfernt auf dem Boden. Obwohl wir sie immer wieder aufforderten, sich zu uns zu setzen, lehnten sie ab. Am nächsten Tag war es nicht anders. Doch diesmal machten wir nicht den Fehler, sie zu bitten, sondern nahmen unser Essen und setzten uns zu ihnen. Die Diskussion, die hierdurch ausgelöst wurde, dauerte die ganze Nacht. Sie hatten uns das Leben gerettet, doch mit uns zu essen, das glaubten sie nicht zu dürfen. Einer so intimen Beziehung fühlten sie sich nicht würdig. Nach langem Gespräch kam es an den Tag: Sie waren überzeugt, keine richtigen Menschen zu sein, höher entwickelte Affen vielleicht. Aber Menschen nicht. Noch nicht. Das hatten Missionare ihnen gesagt. Dieses ‚Noch-nicht-Sein‘, als Vorbild aufgezwungen, gepredigt oder vorgelebt, diktiert ihr Verhalten. Verinnerlichung der vom Westen geformten und dank seiner materiellen Überlegenheit akzeptierten Überzeugung, daß die menschliche Entwicklung nur in eine Richtung gehen könne: in die von Europa vorgezeichnete. Im Südsudan wurde dies in dramatischer Weise erlebt und ausgesprochen.
Wir hatten uns einiges über die Kakua angelesen. Ein paar italienische Missionare, ein englischer Ethnologe und zwei weiße Söldner waren hier gewesen. Die Missionare hatten erklärt, daß alle Schwarzen mit unsichtbaren Affenschwänzen auf die Welt kämen, die erst abfielen, wenn sie sich taufen ließen. Erst dann könnten sie sich langsam zu wahren Menschen entwickeln. Auch Lesen und Schreiben müssten sie zunächst einmal lernen.
Die Regierung in Khartum hatte die Missionare vertrieben und die Islamisierung des Südens befohlen. Wieder wurde den Kakua gesagt, daß sie keine Menschen seien, solange sie Moham-meds Lehren nicht befolgten. Viele wurden zwangsbekehrt. Auf Widerspenstige wurde Jagd ge-macht. [… ] Die Fragen des Ethnologen waren wie richterliche Verhöre im Gedächtnis haften geblieben. Der Einfluß der Söldner hingegen war eher ein guter, denn sie waren gekommen, um diesen Menschen zu helfen, ihre Lebensart zu erhalten. Sie hatten den Männern beigebracht, mit modernen Waffen umzugehen.
All das wurde uns in dieser Nacht erzählt und immer wieder hieß es: Was haben wir nur getan? Welche Schuld haben wir auf uns geladen? Warum haben uns böse Mächte so arg mitgespielt?
Solche Fragen waren vor der Ankunft der Araber und Europäer nicht gestellt worden. Es hatte Nachbarn gegeben, die anders waren, etwas heller oder dunkler, […] Sie hatten ihre Tänze und Sitten und man hatte seine eigenen. Man konnte von anderen lernen, aber Vorbild waren sie nicht. Mit dieser Arroganz traten erst die Araber und Europäer auf. Aus dem ‚Nicht-so-sein‘ wie andere wurde das ‚Noch-nicht-so-sein‘.[ …]
Was konnten wir mit dieser Erkenntnis anfangen? Worte können Situationen klären, aber Verhalten nicht ändern. Durch Zufall hatten wir die einzige Beziehung hergestellt, die das Minderwertigkeitsbewußtsein aufheben konnte: die ‚Scherzverwandtschaft‘. Sie ist in vielen Kulturen üblich. Durch Scherze, Blödeleien und Schabernacks werden Situationen geschaffen, in denen niemand sich mehr ernst nimmt oder ernst genommen werden will. Wir nennen sie ‚Wilde‘ und ‚Neger‘, sie uns ‚Besserwisser‘ und ‚Imperialisten‘. Alle Vorurteile werden ausgesprochen und direkt auf die Person bezogen. Schon nach wenigen Tagen haben all diese Vorurteile ihren Sinn verloren. Jeder ist gleich viel wert. Der Einfallsreichtum unserer ‚Scherzverwandtschaft‘ wuchs täglich. Als wir auch noch Läuse kriegten und uns täglich lausten, war der Mythos von der menschlichen Überlegenheit der Weißen dahin. Die Kakua konnten uns als Gleiche in ihre Familie aufnehmen, und geweint haben wir alle, als wir uns nach sechs Wochen trennen mußten.
Fast überall konnte in traditionellen Gesellschaften ein partnerschaftliches Verhältnis nur dank der scherzhaften Überspitzung der Vorurteile hergestellt werden. Oft ging die Initiative von ihnen aus, zaghaft immer, aber wenn man einmal ein Gespür dafür hat, kann einem die Absicht nicht entge-hen. Es ist ein Angebot der Freundschaft und jedesmal geht Erleichterung durch die Gruppe, wenn man zurückfrotzelt und damit kundtut, daß die angebotene Verwandtschaft akzeptiert wird.“
Gordian Troeller, Kein Respekt vor heiligen Kühen. Gordian Troeller und seine Filme, Bremen, 1992
Scherzverwandtschaft ist ein Konzept, das das Potenzial hat, in vielen unerwartbaren Situationen und Konflikten in Wirtschaft, Politik und Kultur Anwendung zu finden (nicht nur in Konflikten zwischen dem globalen Süden und den Industrieländern). Es geht darum, zwischen der Organisation und ihrer Umwelt Anschlussfähigkeit zu finden und eine Kommunikationsgrundlage zu schaffen. Scherzverwandtschaft funktioniert nur als Kommunikation unter Anwesenden und gelingt nur, wenn man immer wieder in den Spiegel blickt, um die eigene Mustererkennung und den eigenen Anteil an einer ge-scheiterten Kommunikation zu reflektieren.
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